Eines Tages steht ein kulleräugiges, kleines Mädchen vor der Tür des pensionierten Richters im Istanbuler Mietshaus, blutbeschmiert und offenbar unter Schock. Der alte Rifat und seine Haushälterin Sakine waschen das Kind und legen es schlafen. Aber was soll dann passieren? Die Kleine kam offenbar aus der Nachbarwohnung, in der gerade eine Polizeirazzia stattgefunden hat; nach einigem Gebrüll und Schüssen trug man mehrere Leichen heraus – so viel hat der Richter gesehen. Niemand hatte dabei auf das Kind geachtet und nun ist es da.
Sprache als Stigma
Das Mädchen reagiert nicht auf Fragen und als es selbst zu sprechen beginnt, versteht es nur die Haushälterin. "Was für eine Sprache spricht sie?", fragt der alte Rifat. "Kurdisch", antwortet die Frau und schlägt die Augen nieder. Ihr Arbeitgeber ist entsetzt: Nach zehn Jahren erfährt er auf diese Weise, dass Sakine Kurdin ist, und zudem hat er nun ein kurdisches Kind am Hals, mit dem er sich nicht verständigen kann. Solche sprachlichen Nuancen könnten in einer synchronisierten Fassung leicht verloren gehen. Daher hat sich der Verleih entschlossen, den Film nur im kurdisch-türkischen Original mit deutschen Untertiteln zu starten.
Gegenseitige Annäherung
Doch bald verändert die unverhoffte Notgemeinschaft das Verhalten aller Beteiligten: Der einsame Alte und das niedliche Kind lernen nicht nur jeweils die Sprache des anderen. Rifat legt etwas von seiner Verbohrtheit ab, entdeckt beim Einkaufen, Spazieren gehen und Essen mit dem Mädchen sogar eine ganz neue Lebensqualität und wird am Ende womöglich gar den Sprung in eine Beziehung mit der Nachbarin wagen, die ihm eindeutige Anträge gemacht hat.
Ein Filmtitel wird zum Problem
Großer Mann, kleine Liebe hieß der Film ursprünglich auf Türkisch, doch dann taufte man ihn wegen der möglichen pädophilen Implikationen in
Hejar um. So ist der Name der kleinen Heldin des Films, es ist das kurdische Wort für Unterdrückung. Mit diesem neuen Titel wurde der Film, der immerhin mit staatlicher Förderung zustande kam, kurz vor Beginn des Istanbuler Filmfestivals im April 2002 von der türkischen Zensurbehörde verboten.
Zensurmaßnahmen – wogegen?
Am Anfang von
Hejar sieht man zwar die mit unbarmherziger Härte durchgeführte Razzia der türkischen Polizei und später kommen einige Fernsehbilder von Militäreinsätzen in kurdischen Gebieten dazu. Aber solche Szenen hat es auch schon in anderen türkischen Filmen der letzten Jahre gegeben, ohne dass sie beanstandet wurden. Über die Gründe für die inzwischen wieder aufgehobene Zensurmaßnahme wurde viel spekuliert; jedenfalls verschaffte sie dem Film und seiner Regisseurin Handan Ipekçi eine Aufmerksamkeit, die ihnen gemessen an inhaltlichen oder ästhetischen Kriterien sonst vielleicht nicht so stark zuteil geworden wäre.
Gesellschaftskritik und Kinderschicksale
Hejar spricht vorsichtig Tabuthemen an. Die Regisseurin wählt die kleine Hejar als Filmheldin und Sympathieträgerin, um Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Dieser Ansatz, gesellschaftskritische Geschichten mit Kindern als Hauptdarsteller zu erzählen, wird auch in anderen Ländern – beispielsweise im iranischen Kino – vorzugsweise dann gewählt, wenn die Kritik an den herrschenden Verhältnissen aufgrund besonderer Empfindlichkeiten der Behörden oder konkreter Zensurbestimmungen eigentlich unerwünscht oder gar verboten ist.
Verständigung schafft Verständnis
Der pensionierte Richter in
Hejar würde schwerlich von einem Sympathisanten der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung Kurdisch lernen oder sich auch nur für ihn interessieren. Die unschuldige Kleine jedoch darf ihm solche Mühe abverlangen – sie ist schließlich abhängig von ihm, genauso wie die Hausangestellte, die ihm nach langen Jahren nun endlich ihre ethnische Zugehörigkeit gesteht und im Zuge seines emotionalen Auftauens auch gleich noch ihren wahren kurdischen Namen verrät. Der Richter hat immerhin gelernt, dass er mit dem Diktum "in diesem Haus wird kein Kurdisch gesprochen" nicht weiter kommt, vor allem selbst nicht, denn er fühlt sich einsam und möchte sich mitteilen und verstanden werden. Am Ende des Films, als er Hejar mit einem anderen alten Mann – einem kurdischen Freund von ihrer Familie – davonziehen lässt, hat er Einiges über die Lebensbedingungen der Kurden in seinem Land gelernt.
Kritik am Verhalten der Staatsorgane
Der Film zeigt auch, dass Rifat mit dem Vorgehen der Polizei in der Nachbarwohnung keinesfalls einverstanden ist. Er protestiert gegen die rüde Behandlung durch die militärisch operierenden Spezialeinheiten, die ihn während des Einsatzes mit dem Maschinengewehr bedrohen. Sie lassen sich davon nicht beeindrucken, obwohl sie wissen, dass er ein Mann ist, der die Gesetze kennt, die ihr Verhalten nicht billigen.
Eine exemplarische Geschichte
Leise sind sie also, die kritischen Töne, die Handan Ipekçi anschlägt, aber immerhin hörbar. Vielleicht sollte man
Hejar nicht nur auf das türkisch-kurdische Verhältnis beziehen. Auch das israelisch-palästinensische oder das englisch-irische Verhältnis zum Beispiel sind von Okkupation, Unterdrückung, Intoleranz und Unabhängigkeitskampf in Folge religiöser oder ethnischer Differenzen geprägt.
Autor/in: Daniela Sannwald, 01.04.2003