Lilja hat keine Chance auf ein Leben in Würde. Von ihrer Mutter verstoßen, mittellos und ganz auf sich allein gestellt, bleibt der 16-jährigen Russin keine andere Wahl, als nach erbittertem Lebenskampf schließlich das zu tun, was die einzige erreichbare Verwandte ihr rät: die Beine breit machen, um Lebensmittel, Miete und Strom zu bezahlen. Denn selbst beim Jugendamt stößt der Hilfeschrei des Mädchens auf taube Ohren. Nur einen Freund hat sie: den 11-jährigen Volodja aus der Nachbarschaft, der wie sie im Leben ohne liebende Eltern zurecht kommen muss und ihre raue Lebenswirklichkeit teilt. Beide sind sensibel, verletzbar und leiden an ihren traumatischen Kindheitserlebnissen. Das schweißt sie zusammen. Um der familiären Gewalt zu entgehen, ist Volodja von zu Hause abgehauen und heftet sich an Liljas Versen, die sich wie eine ältere Schwester um ihn kümmert.
Das soziale Gefälle als Nährboden für Unmenschlichkeit
Lilja 4-Ever beginnt in einem tristen Vorort irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion. Verwahrloste Wohnungen und herunter gekommene Siedlungen wie die, in der die Filmheldin aufwächst, gibt es dort viele. Dennoch legt Lukas Moodysson den Handlungsort nicht konkret fest, da es Armenviertel dieser Art überall und besonders in Osteuropa gibt. Mit dokumentarischer Schärfe zeichnet er das Milieu und die Figuren in diesem brisanten, gesellschaftskritischen Film. Hervorzuheben ist die enorme schauspielerische Leistung der 1987 in St. Petersburg geborenen Oksana Akinshina, die ihre Rolle als Lilja so erschütternd durchleidet, als handle es sich um ihre eigene Biografie. Liljas Geschichte ist zwar fiktiv, aber Schicksale wie das ihre gibt es viele. Vor allem in Osteuropa boomen Menschenhandel und Zwangsprostitution, weil dort skrupellose Geschäftemacher die wirtschaftliche Not und Abhängigkeit der Bevölkerung ausnutzen. Dieses soziale Machtgefälle von armen und reichen Ländern als Folge des Kapitalismus und der Globalisierung möchte der schwedische Regisseur mit seinem Film anprangern. In armen Ländern, in denen alles käuflich ist, sieht er eine "vergewaltigte Gesellschaft", in der das Leben von Menschen wie Lilja von kriminellen Organisationen brutal zerstört wird.
Gefühlskälte und Überlebenskampf
In eine solche "vergewaltigte" Gesellschaft ist Lilja als ungewünschtes Kind hineingeboren worden. Eltern, Verwandte und Nachbarn haben selbst so viel eigene Not erlitten, dass sie emotional abgestumpft sind und im steten Überlebenskampf Härte zeigen wie Liljas extrem gefühlskalte Mutter, um deren Liebe und Fürsorge die Tochter vergeblich kämpft. Für Mitmenschlichkeit ist kein Platz. Das wird spätestens klar, als Lilja sich von einer Discobekanntschaft verführen lässt, nach Schweden zu gehen, obwohl sie ihren besten und einzigen Freund Volodja dabei zurücklassen muss. Nicht zufällig schafft der Regisseur filmisch Parallelen zwischen den beiden Abschiedszenen von Mutter und Tochter beziehungsweise Lilja und Volodja.
Träume und Illusionen
Mit der Aussicht auf ein besseres Leben im Wohlstand lässt sich Lilja trotz anfänglicher Skepsis und Volodjas Warnungen nach Schweden locken. Zuvor hatte sie sich vergeblich mit Händen und Füßen gegen eine Existenz als Prostituierte gewehrt. Ihr von Andrei genährtes Wunschdenken ist so stark, dass sie sogar hofft, Volodja könne später vielleicht nachkommen. Dass sie auf Andrei hereinfällt, der ihr ein schönes Leben in der Fremde verspricht, ist keineswegs ein Zeichen von großer Naivität, denn der Mann, der Liljas Vertrauen gewinnt und missbraucht, arbeitet mit subtiler Psychologie. Er spielt den liebevollen, großzügigen und einfühlsamen Freund und beschert ihr glückliche Augenblicke. Endlich einmal fühlt sich das Mädchen geborgen und geachtet. Auf einem Rummelplatz zieht sich zum ersten und einzigen Mal ein Lächeln über das sonst so traurige Kindergesicht mit den sehnsuchtsvollen Augen: Lilja ist verliebt und nimmt hoffnungsvoll das Angebot an, mit dem jungen Mann nach Schweden zu gehen, auch wenn sie dafür Volodja im Stich lassen muss. In Schweden wird sie von einem brutalen Zuhälter in Empfang genommen, der sie in eine anonyme Hochhauswohnung sperrt und mit Drohungen und offener Gewalt zur Prostitution zwingt.
Ein Funken Hoffnung
Obwohl der Film keinen Zweifel daran lässt, dass Lilja sich in einer ausweglosen Situation befindet, lässt er doch auf poetische Weise einen Funken Hoffnung aufkommen. Denn Moodysson ist darum bemüht, ein Gegengewicht für seine realistisch harten und tragischen Szenen zu schaffen. Er nimmt sich seiner Heldin an, indem er ihr einen Engel zur Seite stellt, der ihr in Momenten großer Verzweiflung Mut macht und Trost spendet. Der Regisseur greift damit auf eine lange Tradition zurück, die Engel als Beschützer, Sendboten und Helfer im Kino haben. In
Lilja 4-Ever wachsen Liljas kleinem Freund Volodja Flügel, nachdem dieser verzweifelt Selbstmord begangen hat. Er erscheint Lilja in ihren Träumen und ermutigt sie, nicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufzugeben. Und er zeigt ihr, wie unbeschwert das Leben als Engel ist, womit er Lilja zugleich die Angst vor dem Tod nimmt. Einmal greift der Engel sogar mit einem praktischen Ratschlag in das Geschehen ein, indem er Lilja verrät, dass die Tür zu ihrer Wohnung offen steht. Tatsächlich ergibt sich in diesem Moment wie durch ein Wunder eine Fluchtmöglichkeit, da der Zuhälter offenbar vergessen hat, die Tür abzuschließen.
Ein Appell an die Menschlichkeit
Atemlos und ohne Ziel rennt Lilja nun durch die Straßen. Diese Sequenz ist zugleich die erste dieses Films, aus der Liljas Vorgeschichte in einer Rückblende aufgerollt wird. Gleich zu Beginn stimmt der Regisseur damit das Publikum auf ein beklemmendes Drama ein und unterstreicht den desolaten, verzweifelten Seelenzustand der Heldin noch durch das aufwühlende Rammstein-Lied "Mein Herz brennt". Sogar dem tragischen Schluss weiß Moodysson einen Hoffnungsschimmer zu verleihen. Denn ihr Selbstmord führt Lilja auf direktem Weg ins Reich der Engel, wo sie Volodja wieder trifft. Von nun an kann ihr niemand mehr etwas anhaben. Für immer ist sie ihrem unglücklichen irdischen Dasein entkommen. Eindringlicher könnte kein Film das Ende von Menschenhandel und Zwangsprostitution fordern. Zugleich rüttelt er die Menschen auf und appelliert an ihre Humanität.
Autor/in: Kirsten Liese, 01.12.2003