goEast – 4. Festival des mittel- und osteuropäischen Films 2004
Dealer
In passender Nähe zur Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 bot das Festival goEast in seiner vierten Auflage die Chance eines unmittelbaren Kultur- und Informationsaustauschs zwischen Deutschland und den osteuropäischen Ländern. Dass dieses Bedürfnis besteht und die Chance genutzt wurde, verdeutlichen die kontinuierlich steigenden Besucherzahlen auf dieses Jahr insgesamt 6500, davon rund 90 internationale Gäste und 180 Fachbesucher/innen. Und das, obwohl es das nach den Grenzland-Filmtagen und Cottbus dritte deutsche Festival mit osteuropäischem Profil nicht leicht hat, an neue und gute Wettbewerbsfilme aus dem Osten zu kommen, da es im internationalen Festivalreigen zeitlich zwischen Berlin und Cannes sowie vor Karlovy Vary liegt. So liefen bereits zwei der drei Hauptpreisträger (Bester Film für Koktebel und Beste Regie für Dealer) im Forum der Berlinale 2004, und die Auszeichnung des russischen Beitrags Koktebel (s. u.) mit der "Goldenen Lilie" als Bester Film ging eindeutig an den einzigen Film des Spielfilmwettbewerbs, der in der deutschen Kinolandschaft größere Marktchancen haben dürfte.
Der Profi
Künstlerische Wagnisse
Aber der Wert eines Films bemisst sich zum Glück nicht allein nach seinen Marktchancen. So verdeutlichen insbesondere auch die beiden Beiträge aus Ungarn, dass man nach einer Übergangsperiode der Orientierung nach westlichen Vorbildern wieder an die alte Filmtradition anknüpft und erneut künstlerische Wagnisse eingeht, wenngleich sich die aufgegriffenen Themen leicht verschoben haben, gar neue Stoffe entdeckt werden. Tamás Sas erzählt in Down by Love /Szerelemtol Sujtva die Geschichte einer jungen Frau, die als 13-Jährige von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde und ihm seitdem hörig ist. Das Kammerspiel ist bis kurz vor Schluss überwiegend als Ein-Personen-Stück inszeniert, aus der Perspektive der Frau gefilmt, zeigt ihre Selbstgespräche und auf innere Anspannung hindeutenden Verhaltensweisen, die von einer sezierenden und gleichzeitig sehr beweglichen Kamera eingefangen werden. – Benedek Fliegauf (Preis für die beste Regie) entwirft in Dealer in düsteren, graublauen Farben und ebenfalls mit ständig um die Personen kreisenden Kamerabewegungen das Bild eines emotionslosen Drogendealers, den der psychische und physische Verfall seiner Kunden scheinbar kalt lässt, bis ihn der Film als Täter und Opfer gleichermaßen darstellt. Beide Filme enden mit dem Tod eines Menschen und diejenigen, die überleben, haben nichts zu lachen.
Koktebel
Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ära
Filmemacher/innen aus verschiedenen Generationen beschäftigen sich mit der kommunistischen Vergangenheit und der Umbruchsituation in ihrem Land und das, obwohl beispielsweise Titus Munteanu aus Rumänien in der gegenwartsbezogenen Rahmenhandlung zu Examen zu der pessimistischen Schlussfolgerung gelangt, dass die Vergangenheit nur noch wenige aus der jüngeren Generation interessiere. In Erwartung eines sensationsträchtigen Stoffes interviewt eine Filmstudentin einen älteren Taxifahrer, der vor über zwanzig Jahren mehrere Jahre unschuldig im Gefängnis verbrachte, weil die Staatsmacht für ein Verbrechen dringend einen Schuldigen brauchte. Munteanu verzettelt sich allerdings in seiner Geschichte und was beispielhaft sein sollte, wird schnell zum beliebigen Justizskandal, der sich überall ähnlich abspielen könnte. – Mit den Mitteln des Humors und der scharfen Satire nähert sich Dusan Kovacevic in Der Profi /Profesionalac (Serbien/Montenegro) der Vergangenheit. Im Rückblick und in der Begegnung mit einem pensionierten "Staatsschützer" erkennt ein jahrelang von der Geheimpolizei überwachter ehemaliger Oppositioneller, wie unmittelbar sein Leben durch diese Überwachung geprägt worden ist. Der Film endet – mit der pessimistischen Erkenntnis, dass sich zwar die Machthaber, nicht aber die Strukturen geändert haben.
Eine Bar an der Victoria Station
Die Gesellschaft im Spiegel der Familie
Der Pole Jerzy Stuhr ist vor allem als Schauspieler international bekannt geworden, bevor er ins Regiefach wechselte. In Das Wetter von morgen /Pogoda na jutro liefert er über die Geschichte einer Familie das wenig erfreuliche Zustandsbild einer neukapitalistischen Gesellschaft der Nachwendezeit, das nur durch Witz und Humor erträglich wird, wenigstens aber einen kleinen Hoffnungsschimmer (im sonnigen Wetter von morgen) lässt. Ein Familienvater, der sich wegen eines Verkehrsunfalls mit einem Parteibonzen zwanzig Jahre in einem Kloster versteckt hielt, wird bei einer öffentlichen Veranstaltung zufällig von seiner Frau enttarnt. Aus dem Kloster geworfen, versucht er sich an einer Wiedergutmachung und möchte das längst aus den Fugen geratene Leben seiner Frau und der drei inzwischen erwachsenen Kinder wieder in Ordnung bringen. Das stellt ihn vor eine fast unlösbare Aufgabe, denn seine Frau ist mit einem Autoschieber liiert, der Sohn im Begriff, seine Seele für die politische Karriere zu opfern, die ältere Tochter Prostituierte in einer ominösen TV-Peepshow und die jüngere geht mit einem Drogendealer und ist selbst drogengefährdet. Stark lädiert findet sich die ganze Familie schließlich im selben Krankenhaus wieder, aber das ist noch nicht das Ende der trotz aller Tragik sehr unterhaltsam erzählten Geschichte (Preis des Filmkritik-Verbands FIPRESCI). – Koktebel (Preis für den Besten Film) von Boris Chlebnikov und Aleksej Popogrebskij ist eine russische Vater-Sohn-Geschichte und ein Road-Movie, das klassischen Erzählstrukturen folgt, wobei die den Zuschauenden schnell ans Herz wachsenden Figuren sich zum Positiven hin entwickeln. Nach dem Tod seiner Frau macht sich ein arbeitsloser, alkoholsüchtiger Ingenieur mit seinem kleinen Sohn auf den Weg von Moskau durch die Ukraine nach Koktebel am Schwarzen Meer, wo die Tante des Jungen leben soll. Als der Vater sich in eine Frau verliebt, reist der Sohn alleine weiter. Während dieser langsam erwachsen wird, lernt der Vater, Verantwortung zu übernehmen. Ein ruhiger Erzählfluss, sympathische Darsteller/innen, der sparsame Einsatz von Dialogen und eine ausdrucksvolle Bildsprache machen den Film ästhetisch und inhaltlich zu einem intensiven Kinoerlebnis.
Alphabet der Hoffnung
Arbeitsplatz Europa
Besonderes Interesse wie schon im Vorjahr verdiente wieder der Dokumentarfilmwettbewerb, um den diesmal sechs Filme zwischen 55 und 74 Minuten Länge konkurrierten. Gerade in dieser Sektion gibt es echte Entdeckungen und genügend Stoff für Auseinandersetzungen. In einer Zeit, in der bei hoher Arbeitslosigkeit und europaweiter Sorge um Arbeitsplätze kaum noch über die Qualität und den Sinn der jeweiligen Arbeit an sich diskutiert wird, geben Andres Maimik und Jaak Kilmi in ihrem estländischen Film Lebenskünstler /Elav Joud neue Impulse. Sie porträtieren einige intellektuelle, "schwer vermittelbare" Langzeitarbeitslose, die sich weigern, jeden beliebigen Job anzunehmen und ohne staatliche Unterstützung lieber ihrer eigenen Wege geben. Deren keineswegs nur positiv geschildertes Schicksal wird konfrontiert mit dem eines dynamischen jungen Mannes, der im Fitnessstudio wie im Beruf sein Bestes gibt und ganz dem Klischee eines erfolgreichen Managers entspricht. – Ganz gewiss nicht arbeitsscheu sind die beiden jungen Polen in Leszek Dawids Dokumentation Eine Bar an der Victoria Station /Bar na Victorii, die, leeren Versprechungen folgend, mit ihren wenigen Ersparnissen nach London reisen, um dort arbeiten zu können. Es gibt eine böse Überraschung, denn niemand will sie, niemand braucht sie und das Überleben allein ist für ihre Verhältnisse bereits unerschwinglich. So bleibt ihnen nichts als die Hoffnung, selbst eine kleine Bar eröffnen zu können.
Heimkehrer
In einem zusammenwachsenden Europa wird sich auch die Frage nach den Minderheiten in den verschiedenen Ländern neu stellen, beispielsweise die der Roma aus dem ehemaligen Staatengebilde Jugoslawien. Viele von ihnen fanden während des bosnisch-serbischen und des Kosovo-Kriegs Zuflucht vor allem in Deutschland. Und viele von ihnen wurden nach Ablauf von Aufenthaltsgenehmigung bzw. geduldetem Aufenthalt oft über Nacht und ohne ihr Hab und Gut abgeschoben in eine Heimat, die von ihnen eigentlich nichts wissen möchte und ihnen auch unter der neuen Staatsführung keinerlei Hilfestellung leistet. Zelimir Zilnik berichtet in Kenedi kehrt heim /Kenedi s vraca kuci von (Serbien/Montenegro) hautnah und provokativ, wie es einigen dieser Flüchtlinge nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Belgrad ergangen ist. – Hoffnung ist oft das einzige, was Menschen bleibt, um in kritischen Lebenslagen überleben zu können. Und genau diese Hoffnung vermittelt Alphabet der Hoffnung /Azbuka na nadejdata von Stephan Komandarev ganz unaufdringlich. Die bereits im Entstehungsland Bulgarien als bester Dokumentarfilm 2003 ausgezeichnete Produktion erhielt in Wiesbaden den Dokumentarfilmpreis der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Nachdem die bulgarische Staatsmacht in den 1980er Jahren versuchte, die türkischstämmigen Bewohner an der Grenze zur Türkei zu christianisieren, verließen viele das Land. Nur wenige blieben in den abgeschiedenen Dörfern und nach und nach wurden immer mehr Schulen geschlossen. Heute müssen die Kinder unter großen Entbehrungen jeden Tag in eine weit entfernte Schule fahren und lernen dort neben dem Alphabet zusammen mit bulgarischen, türkischen und Roma-Kindern auch ein Stück Toleranz.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006