Hintergrund
Jüdische Alltagskultur heute – Tradition und Feste
Was ist europäisches Judentum und wie wird es im Alltag gelebt? Diese Frage ist mindestens so schwer zu beantworten wie die Frage danach, was europäisches Christentum heute sei. Die in dieser Ausgabe vorgestellten Filme zeigen ebenfalls, dass es keine einheitliche Definition von Judentum gibt .
Alles auf Zucker! und
Der Tango der Rashevkis beginnen mit dem Tod der Großmutter und schaffen damit filmdramaturgisch den Ausgangspunkt für die folgenden Konflikte in der Verwandtschaft. Denn sie war die einzige Person, die die Familie noch zusammenhielt und die einzige Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen der Verwandtschaft mit ihren bereits stark voneinander abweichenden Lebensweisen.
Schiwa-Sitzen
Was bedeutet es, wenn Familie Zuckermann oder Familie Rashevski Schiwa sitzen? Nach jüdischer Tradition sind die engsten Verwandten der Verstorbenen – hier die beiden Söhne – verpflichtet, sieben Tage zu trauern, oder anders ausgedrückt: Sie sind für sieben Tage all ihrer Pflichten entbunden und können sich dem Gedenken an die Verstorbene hingeben. Das Schiwa-Sitzen (Shiwa = sieben) beginnt direkt nach der Rückkehr vom Friedhof. Die Trauernden sitzen auf niedrigen Schemeln, was sich auf das Buch Hiob bezieht, in dem es heißt: "seine Freunde kamen, ihn zu trösten und setzten sich zu ihm auf den Boden". Die Trauernden werden von Verwandten und Nachbarn versorgt, ab dem dritten Tag kommen auch Bekannte hinzu, um Trost zu spenden. Während der Schiwa verlassen die Trauernden das Haus nur am Sabbat (auch Schabbat genannt), um in die Synagoge zu gehen. Heute halten nur noch wenige Juden diese Regeln strikt ein. Das hat sowohl etwas mit der Veränderung religiöser Bräuche allgemein zu tun als auch damit, eine religiöse Minderheit zu sein in Staaten, deren Bräuche – und damit auch Vorschriften – von einer anderen Religion geprägt sind, hier dem Christentum. Beispielsweise steht Arbeitnehmern/innen in Deutschland gesetzlich nur ein freier Tag beim Tod eines nahen Verwandten zu. Ganz allgemein spielen in zunehmend individualisierten Gesellschaften Trauerrituale eine immer geringere Rolle.
Sabbat und Sabbat-Gojs
Der Sabbat ist im Judentum der siebte Tag der Woche, der Ruhetag. Er ist vergleichbar mit dem christlichen Sonntag, beginnt jedoch am Freitagabend mit Aufgang des Mondes und endet am Samstagabend ebenfalls mit Aufgang des Mondes. Religiöse Menschen verrichten in dieser Zeit keinerlei Arbeit, es wird nicht gekocht (das Essen wird vorgekocht und auf Warmhalte-Platten gestellt), Lichtschalter werden nicht betätigt, man klopft an die Haustür und klingelt nicht, Zigaretten werden nicht angezündet, man fährt weder Auto noch ein anderes Verkehrsmittel, man geht zum Gebet in die Synagoge. Auch diese strengen Regeln werden in Deutschland und selbst in Israel nur von einer sehr geringen Minderheit eingehalten und viele von ihnen sind erfinderisch genug, zum Beispiel einen Sabbat-Goj für die täglichen Verrichtungen einzuspannen. Ein Sabbat-Goj ist jemand, für die oder den die Regeln des Sabbats nicht gelten, jemand mit einer anderen Religion, manche dulden auch andere Juden, die sich nicht an die Gesetze halten. Der Sabbat-Goj zündet einer starken Raucherin am Sabbat die Zigarette an, wer nachts lieber im Dunkeln schläft, bittet auch schon mal nicht-religiöse Nachbarn/innen, das Licht auszuschalten usw. Manche Juden nutzen den Erev-Sabbat, den Freitagabend, ganz einfach, um sich mit Freunden/innen zu treffen und gut zu essen, für die meisten aber spielt der Sabbat keine Rolle mehr.
Pessah-Fest
Im
Tango der Rashevskis kommt es am Seder-Abend, dem Beginn des Pessah-Festes, zum Streit in der Familie um Tradition und Zugehörigkeit, als gerade die nicht-jüdische Frau des Hauses vorschlägt, traditionell zu feiern. Traditionell ist der Seder-Abend eine Art Hausgottesdienst, der während der Mahlzeit abgehalten wird. Die Pessah-Geschichte vom Auszug aus Ägypten und somit dem Ende der Sklaverei wird gelesen. Das Ritual beinhaltet Gebete und Lieder sowie eine besondere Essensabfolge, mit der die zehn Plagen in Ägypten symbolisiert werden. Eigentlich ein Freudenfest, hat Pessah bei jüdischen Gemeinden, die schon lange in Europa leben (oder aus Europa nach Israel eingewandert sind) zuweilen einen mahnenden Charakter. Manche dieser Feiern erinnern mehr an die Verfolgung als an die Befreiung, da dies vor allem in Osteuropa der Lebensrealität entsprach. Der Zionismus hat sich dies politisch zu Nutze gemacht: In der israelischen Erziehung steht Pessah in einer Abfolge von Gedenktagen, die an das Leid des jüdischen Volkes erinnern und mehr oder weniger direkt zu Stärke aufrufen (vergleiche hierzu Eyal Sivan's Film
Izkor – Sklaven der Erinnerung, F/D 1991). Bei den jüdischen Gemeinschaften in der arabischen Welt ist Pessah ein Freudenfest geblieben.
Mimuna und die marokkanischen Juden
Aufgrund seiner kolonialistischen Vergangenheit hat Frankreich eine große marokkanische Gemeinschaft. Die Juden unter ihnen feiern die Mimuna. Obwohl dieses Frühlingsfest ein rein volkstümliches, nicht-religiöses Fest ist, beginnt es mit dem letzten Abend der Pessah-Woche und dauert den ganzen folgenden Tag. Es werden in dieser Zeit nur Süßigkeiten gegessen, man geht in die Natur, Paare verloben sich. Die Mimuna (das marokkanisch-jüdische Wort für Glück) wird auch heute von marokkanisch-jüdischen Gemeinschaften und Familien in Europa, am sichtbarsten in Frankreich, gefeiert. Die Hochzeit am Ende des
Tango der Rashevskis ist allerdings keine jüdische; sie wird nach dem Brauch der marokkanischen Braut gefeiert.
Autor/in: Irit Neidhardt (Kuratorin für Filmreihen aus dem Nahen Osten, mec film Verleih), 21.09.2006