Hintergrund
Geschichtsunterricht - Wie das Kino Erinnerungsarbeit leistet
Immer wieder greift Gabi Teichert nach dem Spaten und geht hinaus ins Land, um nach den Wurzeln der bundesdeutschen Identität zu graben. Gabi Teichert (gespielt von Hannelore Hoger) ist Geschichtslehrerin und tritt in Alexander Kluges Die Patriotin (BRD 1979) auf; erstmals allerdings in dem Kompilationsfilm Deutschland im Herbst (BRD 1978), als die nationale Identität durch den Terror der Rote Armee Fraktion (RAF) besonders erschüttert war. Gabi Teichert weiß, dass Gegenwart und eigene Identität sich nur begreifen lassen, wenn die tieferen Schichten ergründet werden, auf denen die nationale und individuelle Existenz basiert. Deswegen gräbt sie in einem symbolischen Akt – sie versucht, sich in der Abhängigkeit von Geschichte zu verstehen.
Das Vergangene im Gegenwärtigen

Am Ende kommen Touristen
Ein Individuum, das mit Geschichte konfrontiert wird, muss lernen, eine Haltung gegenüber dem aus Jahren und Jahrhunderten Überkommenen einzunehmen. So wie Sven es lernen muss, der Ersatzdienstleistende aus Berlin, den es in Robert Thalheims Film
Am Ende kommen Touristen (Deutschland 2007) in die Begegnungsstätte Auschwitz verschlägt. Er erfährt, wie schwer der Umgang mit der Historie sein kann. Er erfährt aber auch, dass die Vergangenheit stets in der Gegenwart präsent ist und ihre Berücksichtigung einfordert.
Das Schweigen der Opfer
Tatsächlich ist das Kino ein gutes Lehrmittel, um ein solches Lernziel zu erreichen: Es rekrutiert viele seiner Stoffe aus der Vergangenheit und bearbeitet sie für das gegenwärtige Publikum. Besonders wirksam sind Kinofilme dort, wo historische Traumata nationale und individuelle Identitätsbildungen stören. Die Traumatisierung von Tätern und überlebenden Opfern durch den Holocaust wirkt sich nachhaltig auch auf das Zusammenleben späterer Generationen aus – beispielsweise in Israel. Wie ein Film hier zugleich Geschichtsforschung betreiben und Wundheilung versuchen kann, belegt Wegen dieses Krieges von Orna Ben-Dor Niv (B'Glal Hamilhamah Hahi; Israel 1988). Der Dokumentarfilm schildert, wie Holocaust-Überlebende (die ja wie die Täter aus Scham oft schweigen) und ihre Kinder versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Begrabt mein Herz am Wounded Knee
Raymond Levoi möchte Karriere beim FBI machen. Da führt den jungen Agenten ein Auftrag in eine Indianerreservation. Er soll einem erfahrenen Kollegen helfen, einen Mord aufzuklären. Und plötzlich wird Levoi mit einem Faktum konfrontiert, das er gern verdrängt. Zu einem Viertel ist auch er Indianer. Die neue Umgebung beschwört die Vergangenheit in Visionen herauf: den durch die Ghetto-Situation eines Reservats geförderten Alkoholismus des Vaters, die historische und mythische Bedeutung der Region von Wounded Knee. Dort fand 1890 das letzte große Massaker der Weißen an Indianern statt, dort hat das American Indian Movement (AIM) 1973 mit einer Besetzung Widerstand gegen diskriminierende Gesetze signalisiert. Michael Apteds Halbblut (Thunderheart; USA 1992) ist zwar vor allem ein gut gemeinter Hollywood-Indianer-Film. Doch er deutet die historisch bedingte Identitätsproblematik der Native Americans immerhin an.
Die Spuren der Sklaverei
Die verdrängte Herkunft, die verschleierte Erinnerung der Schwarzen in den USA war nach eigenen Angaben Anlass für den äthiopischen Regisseur Haile Gerima, den Film
Sankofa (USA, Deutschland, Ghana, Burkina Faso 1993) zu drehen. Gerima schickt ein afroamerikanisches Fotomodel mit den Mitteln der Magie in die Zeiten der Sklaverei zurück. Sie macht alle Erfahrungen der Entwürdigung am eigenen Leib durch, doch es gelingt ihr erst nach langer Zeit, den angepassten Widerstand gegen die Revolte zu überwinden und sich einem Aufstand anzuschließen.
Die andere Seite
Was in Sankofa die Magie leistet, erreicht das Kino, wenn es eine vergangene Epoche nicht nur als Kulisse mit Schauwert oder als Abenteuerspielplatz rekonstruiert, sondern wenn es sich in die Geschichte zurück versetzt, um kritische Erinnerungsarbeit anzustoßen. Oft genug agiert es allerdings genau gegenteilig, indem es fragwürdige historische Vorgänge patriotisch heroisiert und in populäre Mythen verwandelt. Ein Musterfall für dieses Verfahren ist der Umgang Hollywoods mit der Schlacht am Little Bighorn (25. Juni 1876). Die Niederlage des Kavallerie-Generals George A. Custer gegen Crazy Horse und eine Indianer-Koalition wurde in vielen Filmen verdreht, verniedlicht, verharmlost, sogar in einen Sieg verfälscht, bevor Arthur Penn 1970 in Little Big Man der Wahrheit einigermaßen nahe zu kommen versuchte.
Deutsche Vergangenheit
Wo aber der Mantel des Schweigens allzu offensichtlich über die Vergangenheit gebreitet wird, zeigt sich das Kino gern widerspenstig. Lange Zeit enthielt man sich in der Bundesrepublik Deutschland öffentlicher Fundamentalkritik am "Dritten Reich". Im Kino jedoch wurden immer wieder Finger in vernarbende Wunden gelegt, wurde stets aufs Neue darauf hingewiesen, dass die Geschichte keine Schlussstriche kennt. 1959 gruben Wolfgang Staudte und Helmut Käutner mit deutschen Filmen in die Vergangenheit zurück. In
Rosen für den Staatsanwalt konfrontierte Staudte einen ehemaligen Militärrichter und inzwischen als guten Bürger etablierten Staatsanwalt mit einem Unrechtsurteil aus Kriegstagen. Die bissige Komödie handelt davon, dass sogar sein ehemaliges Opfer das Geschehene eigentlich verdrängen möchte. Helmut Käutner nutzte in
Der Rest ist Schweigen die Vorlage der Hamlet-Handlung zur Auseinandersetzung der Generationen in einer wieder erstarkten Industriellenfamilie. Bis in die frühen 1990er-Jahre bleibt die Verdrängung des Nationalsozialismus ein Kinothema in Deutschland. In
Das schreckliche Mädchen greift Michael Verhoeven 1990 einen wahren Fall auf, nämlich die Drohungen gegen eine Schülerin, die für ihre Abiturarbeit die nationalsozialistisch geprägten Verhältnisse in ihrer kleinen Stadt recherchiert.
Die neuen Kriege
Die Geschichte aber ist unerbittlich. Sie geht weiter, schafft neue Verwerfungen, legt neue Traumata über Generationen, fordert zu neuen Auseinandersetzungen heraus, ohne die nationale und individuelle Identitäten nicht gelingen können. Man muss sich stellen. Beispielsweise den Schatten des deutschen Terrors durch die Rote Armee Fraktion und ihrer Folgegeneration. Mit Volker Schlöndorffs
Die Stille nach dem Schuss (Deutschland 2000) und Andres Veiels
Black Box BRD (Deutschland 2001) hat das Kino auch dazu Anstöße geliefert. Schließlich herrschten in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges wieder reale Kriege mit Tätern, Opfern und Wunden, die das Schweigen deckt. Die Filme darüber werden jetzt gedreht. Ein leiser, erschütternder ist
Esmas Geheimnis – Grbavica (Grbavica; Österreich, Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Kroatien 2005) von Jasmila Žbanić über ein junges Mädchen aus Sarajevo, das erfahren muss, dass sie bei einer Kriegsvergewaltigung gezeugt wurde. Dem Kino geht der Stoff der kritischen Geschichtsaufarbeitung nicht aus. Gabi Teichert wird ihren Spaten wohl niemals einmotten können.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 14.08.2007
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