Ungleiche Außenseiter
England in den frühen 1980er-Jahren: Nach dem Tod des Vaters wächst der elfjährige Will Proudfoot unter mütterlicher Obhut in einer streng religiösen Familie der Plymouth Brethren auf. Weltliche "Ausschweifungen" wie Kinofilme, Fernsehen und Radio sind in dieser puritanischen Welt tabu, ebenso Freundschaften zu Außenstehenden. Wird im Unterricht ein Lehrfilm gezeigt, muss Will sich außerhalb des Klassenraums auf dem Flur aufhalten. Dort trifft der stille Junge auf den frechen Lee Carter, der wegen seines rüpelhaften Verhaltens vor die Tür geschickt wurde. Lee ist ebenfalls ohne Vater aufgewachsen und lebt mit seinem älteren Bruder alleine zu Hause. Gewieft verwickelt er Will sogleich in Händel und beeindruckt den eingeschüchterten Jungen, indem er demonstriert, wie leicht man andere durch Schauspielerei zu beeinflussen vermag. Und schon haben zwei Ungleiche sich gefunden.
Filmische Fantasie und Freundschaft
Die Entwicklung der Freundschaft erzählt der Film mit Hilfe einer medialen Referenz – als Geschichte über ein gemeinsames Filmprojekt. Lee verschafft seinem neuen Kumpel, der seine überbordende Fantasie bislang heimlich in selbst gezeichneten Comicstrips auslebte, ein cineastisches "Erweckungserlebnis" –
durch eine illegale Videokopie von Sylvester Stallone als John Rambo in
First Blood (Rambo, Ted Kotcheff, USA 1982), dem ersten der Rambo-Filme. Mit Will als Hauptdarsteller realisieren sie für einen Nachwuchsfilm-Wettbewerb der BBC die Idee, dass er als Sohn von "Rambow" den im Dschungel gefangenen Vater befreien soll. Ausgestattet mit einer Videokamera und mit Hilfe einfachster
Spezialeffekte kommt es zu abenteuerlichen Drehs, in denen die beiden vor waghalsigen Stunts, "Waffeneinsatz" und rasanten Verfolgungsjagden bald nicht mehr zurückschrecken. Überrascht stellt Lee Carter fest, dass er in Will nicht nur einen willfährigen Darsteller und Helfer, sondern auch einen kreativen Ko-Regisseur gefunden hat. Mit fortschreitendem Filmprojekt und dem gemeinsamen Bemühen, ihre cineastischen Aktivitäten vor den Erwachsenen geheim zu halten, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den ungleichen Jungen.
Helden, Idole und Rivalität
Ihre filmische Fantasie von der Rettung des abwesenden Vaters speist sich nicht zufällig aus Sylvester Stallones Heldenfigur – diese wird den Jungen gleichsam zum Vaterersatz. Losgelöst vom Originalkontext der Darstellung Rambos als Kampfmaschine und ihrer problematischen Ideologie bietet der Mythos des archaischen, verfemten und von Autoritäten gedemütigten Einzelkämpfers für die Ängste und Sehnsüchte der Adoleszenz "passende" Projektionsflächen und Identifikationsangebote. Die Rambo(w)-Imagination reflektiert symbolisch verdichtete Angstbewältigungs- und Allmachtsfantasien junger, insbesondere männlicher Heranwachsender – auch wenn heute andere Heldenformate "angesagt" sein mögen Mit der Figur des etwas älteren französischen

Austauschschülers Didier, einem supercoolen, gestylten New Waver, der bald schon zum Superstar der Schule avanciert, wird ein weiteres Idol eingeführt. Der extravagante Teenager-Schwarm bietet sich als zweiter Hauptdarsteller des Rambow-Films an und steigert dessen Attraktion, so dass Will und Lee gar Zutritt zur heiß begehrten Disco-Party im Clubraum der Oberstufe erlangen. Detailfreudig zelebriert Regisseur Garth Jennings hier mit Kostüm, Maske und Musik die Reminiszenz an den New-Wave-Stil der 1980er-Jahre mit seinen asymmetrischen Frisuren, knalligen Lidschatten, dem Synthie Pop von Depeche Mode und den Dark-Wave-Songs von The Cure. Nach und nach wird nahezu die ganze Schülerschaft ins Filmprojekt hineingezogen und ausgerechnet der schüchterne, aber einfallsreiche Will findet sich plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit wieder. Will vernachlässigt Lee und dieser reagiert zunehmend eifersüchtig. Schließlich steht nicht nur der gemeinsame Film, sondern auch ihre Freundschaft kurz vor dem Scheitern.
Komik, Persiflage und Humor
Nicht alleine Bewahrpädagogen könnten beim Namen Rambo(w) leicht reflexartig zusammenschrecken. Doch mit viel

Einfühlungsvermögen in die Welt Heranwachsender, ihre Wünsche, Ängste und Rivalitäten sowie einigem Gespür für ihre medialen Fantasien spielt die Inszenierung leichthändig mit Elementen der populären Helden-Mythologie: aus Rambo wird Rambow. Ungleich komischer als das Original, kraftvoll persiflierend, ruft die jugendaffine Adaption auch etwas vom Pioniergeist der frühen Videokameras und Home Movies ins Gedächtnis. Aus den kontrastdramaturgisch eingesetzten, witzig improvisierten Stunt- und Action-Szenen entsteht eine ganz eigene Anziehungskraft. Nicht nur in den dezidiert altmodisch wirkenden Film-im-Film-Passagen, sondern auch in der nostalgischen Darstellung des Brethren- und Schulumfeldes enthält Jennings Film ausgesprochen surreale, ebenso absurde Momente. Sie machen Reales durch Übersteigerung ins Klischeehafte und skurril-drastischen, sehr britischen Humor umso kenntlicher.
Grenzen überwinden
Auch der religiöse Kontext dient als Erzählfolie, um die enthusiastische Begeisterung für das bislang verbotene Medium und die befreiende Kraft,
die der Imagination innewohnt, verständlich zu machen. Am Ende, als sich vor der Familie nichts mehr verheimlichen und Will sich selbst mit harten Strafmaßnahmen nicht länger beeindrucken lässt, beginnt auch die Mutter, sich aus ihren Fesseln zu lösen. Augenzwinkernd entlässt einen der Film mit der ermutigenden Botschaft, dass sich Fantasien und die Magie der Bilder nicht einfach durch religiösen Rigorismus und andere Tabus einschränken, gar verbieten lassen – im Gegenteil: Imagination und Freundschaft können helfen, fragwürdige Begrenzungen zu überwinden.
Autor/in: Reinhard Middel, Filmpublizist und Medienpädagoge, Freier Mitarbeiter bei Vision Kino Potsdam, 21.07.2008
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