Hintergrund
Chernobyl im Genre des Katastrophenfilms
Der große Erfolg von
Chernobyl, insgesamt zehn Auszeichnungen bei den Emmy-Awards 2019 und hohe Abrufzahlen bei den Streaming-Diensten, ist durchaus auch vor der Konjunktur von Klima-Themen zu sehen. Das Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011 ist noch in Erinnerung und sowohl aktuelle als auch perspektivische Umweltkatastrophen dringen zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die grundlegende Erkenntnis, dass menschengemachte Umweltzerstörung heute – wie im Jahr 1986 – weitgehend politisch ignoriert wird, trifft offenbar einen Nerv.
Chernobyl, Trailer (DVD und Blu-ray erschienen bei Polyband Medien GmbH)
Katastrophenfilme korrespondieren mit der Wirklichkeit
Die Mini-Serie schildert den Super-GAU von Tschernobyl als atmosphärische
Genre-Erzählung mit starkem Realitätsbezug: Unfallhergang und Rettungsmaßnahmen werden penibel nachgezeichnet. Wo die Stars aus Katastrophenfilmen oft heroisch einschreiten, um menschliches Versagen oder Sabotageakte auszubügeln, taugen die Serienfiguren hier nur eingeschränkt als Heldentypen. Die Schadensbegrenzung geht heimlich vonstatten, die wissentlichen oder unwissentlichen Opfergänge der Feuerwehrleute, Bergmänner, Krankenschwestern und Liquidatoren zeigt die Serie von Craig Mazin (Idee) und Johan Renck (Regie) ohne orchestriertes Pathos. Als Vertreter der Wissenschaft sind der Chemiker Legassow und die Atomphysikerin Khomjuk dennoch die Identifikationsfiguren der Serie. Die verantwortungslosen Werksleiter und korrupten Politiker der Sowjetunion sind ihre Antagonisten.
Die Szenarien in Katastrophenfilmen beruhen auf fiktiven oder realen Vorfällen und unterteilen sich in Kategorien wie Naturgewalten, Flugzeug- und Schiffsunglücke, Terrorismus, (monströse) Invasionen oder den Überlebenskampf während und nach einer Katastrophe. Der Übergang zum postapokalyptischen Endzeitfilm ist fließend, die Ausrichtung kann alarmierend, ironisch oder eine Mischung aus beidem sein. Das Genre greift reale gesellschaftliche Krisen auf und steht daher in besonderer Wechselwirkung mit der Wirklichkeit. So verschieben Verleihfirmen regelmäßig ihre Kinostarts, wenn sich in zeitlicher Nähe ein tatsächliches Unglück ereignet, und nicht selten werden Filmstorys von der Realität eingeholt: Der 1979 veröffentlichte
Thriller Das China-Syndrom erschien nach dem Störfall von Harrisburg, zwölf Tage nach der Premiere, in einem anderen Licht.
Blütephasen des Genres in den Krisen der Nachkriegszeit
Die großen Blütephasen des Genres fielen mit gesellschaftlichen Traumata zusammen. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, der Kalte Krieg und die antikommunistische Propaganda in den USA ließen das Genre in den 1950er-Jahren gedeihen. In
Der Tag, an dem die Erde stillstand (USA 1951) warnt ein Außerirdischer vor Naturkatastrophen, in
Formicula (USA 1954) und
Godzilla (JP 1954) greifen verstrahlte Riesenwesen an. Zwei Jahrzehnte später hallten der Vietnamkrieg, Watergate und die Ölkrisen in kassenträchtigen Großproduktionen wie
Airport (1970),
Erdbeben und
Flammendes Inferno (beide 1974) nach.
Die heute bekannte Form des Katastrophenfilms als hoch budgetierter
Blockbuster etablierte sich in den USA auch deshalb, weil Hollywood in der Nachkriegszeit mit epischen Event-Movies und technisch aufwendigen Schauwerten auf die Konkurrenz durch das Fernsehen reagierte: Zerstörungsvisionen als Spektakel
tricktechnischer Innovation. Schon die frühen Vorläufer wie die Reihe der
Pompeji-Stummfilme und das Erdbeben-Drama
San Francisco (USA 1936) führten den jeweils aktuellen Stand der Filmtechnik vor. Über Genre-Klassiker wie
Die Höllenfahrt der Poseidon (USA 1972) bis
Jurassic Park (USA 1993) setzte sich dieser Trend fort. Entsprechend waren die
disaster movies der 1970er als knallige Gegenentwürfe zu den psychologischen Dramen des
New Hollywood konzipiert.
Die 2000er-Jahre brachten eine Evolution der
Computereffekte, mit denen Roland Emmerich etwa in
The Day After Tomorrow (USA 2004) und 2012 (USA 2009) globale Zerstörungsszenarien inszenierte. Eine diffusere, weil zunächst nicht sichtbare Form der Bedrohung entwerfen
Contagion (USA/UAE 2011) und
World War Z (USA 2013), in denen Viren eine weltweite Pandemie auslösen, die sich in letzterem Film effektvoll als Zombie-Apokalypse zuspitzt. Zudem zog der terroristische Anschlag vom 11. September 2001 eine lange Reihe an wirklichkeitsbezogenen Katastrophenfilmen nach sich.
World Trade Center (USA 2006) von Oliver Stone zeigt das bange Warten zweier Polizisten, die unter den Trümmern der eingestürzten Türme verschütt liegen;
Flug 93 – United 93 (USA 2006) von Paul Greengrass nutzt Mittel des Dokumentarfilms, um die Revolte der Passagiere in einem der entführten Flugzeuge als Thriller zu rekonstruieren. Selbst ein Horrorfilm wie
Cloverfield (USA 2008) verweist im pseudo-dokumentarischen Stil auf das Trauma 9/11.
Tschernobyl: Das unsichtbare Grauen
Die
Inszenierung nuklearer Katastrophen ist ein Sonderfall, da die Atomstrahlung als solche nicht unmittelbar visuell darstellbar ist. In der vierten
Chernobyl-Episode spricht eine Bäuerin diese Tatsache an: Warum sie umsiedeln solle, fragt sie, "wegen etwas, das ich nicht einmal sehe". Anders als Atompilze, Explosionen oder Erdbeben funktionieren realistisch geschilderte Nuklearunfälle im Film kaum als Effekt-Vehikel. Stattdessen wird die Bedrohung auf subtilere, aber nicht weniger wirkungsvolle Weise vermittelt. Eine tragende Rolle für die unheilvolle Atmosphäre, in der sich die Gefahr letztlich manifestiert, spielt in
Chernobyl das markante
Tondesign. Es brummt, rauscht und scheppert, Alarmsirenen, dazu das aufwühlende Klackern der Geigerzähler. Der ebenso unbehagliche, minimalistische
Soundtrack stößt als elektrisches Summen dazu. Im Werksinneren dröhnen überlastete Rohre und das Löschwasser prasselt wie Niederschlag in den Reaktor.
Das Kraftwerk wird meist aus einer
Frosch- oder Vogelperspektive gefilmt. Die erste Variante der Bildgestaltung lässt das Gebäude bedrohlicher erscheinen, die zweite zeigt den glühenden Himmel und verweist auf den Wind, der die Teilchen fortträgt. Eine
Schlüsselszene der Pilotfolge versammelt diverse Elemente, die die Bedrohung visualisieren: Als Anwohner/-innen aus
Prypjat den brennenden Reaktor beobachten, wehen Haare in
Zeitlupe im Wind, der die Strahlung verbreitet, Partikel zirkulieren in der Luft, Kinder wirbeln Sandkörnchen auf; mit
Unschärfen suggeriert die Kamera ein Gefühl der Benommenheit. An anderer Stelle vertritt ein Lichtspiel die Radioaktivität: Als die Ehefrau eines kontaminierten Feuerwehrmanns ihn trotz Warnung umarmt, flackert das Bild unter einfallenden Sonnenstrahlen.
Keine Paranoia, sondern historische Erkenntnis
Drei Jahre vor Tschernobyl schilderte der kontrovers diskutierte Fernseh-Thriller
Im Zeichen des Kreuzes (BRD 1983) das rigorose Durchgreifen von Politik und Bundeswehr nach einem Atommüllunfall in der niedersächsischen Provinz. Die im Jahr 1990 spielende Dystopie griff tatsächliche Sorgen der Anti-Atomkraft-Bewegung auf, weshalb Politiker den Film kommentierten und die Erstausstrahlung von einem Vorwort und einer Diskussionsrunde flankiert wurde.
Anders als
Im Zeichen des Kreuzes, der mit der Erschießung der strahlenkranken Menschen endet, schließt
Chernobyl mit einer humanistischen Note. Die Würdigung der damaligen Ersthelfer/-innen vor dem
Abspann verweist darauf, dass die Serie keine spekulativen Ängste verhandelt, sondern eine historische Erkenntnis: Ein weiteres Tschernobyl darf es nicht geben.
Autor/in: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 23.09.2019
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