Zwischen Konsens und Konflikt (Stereotype und Vorurteile)
Stereotype und Vorurteile bezeichnen Sichtweisen und Urteile, die vor allem wegen einer Verallgemeinerung bzw. einer Abwertung (gelegentlich auch wegen einer übertrieben erscheinenden Hochschätzung) auffällig werden. Aber kommen wir ohne verallgemeinerte Einschätzungen und Bewertungen aus? Eine Italienerin ohne Temperament, ein unhöflicher Japaner als Gast, das entspricht nicht unseren Vorstellungen. Was bedeutet die Rede vom mündigen Bürger, der friedfertigen Frau, vom korrupten Politiker?
Stereotype sind "Bilder in unseren Köpfen", wie es Walter Lippmann 1922 formuliert hat. Danach dienen Stereotype als Mittel zur Orientierung, die Aufschluss über die Welt und die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft geben. Stereotype machen die Welt durch Vereinfachung überschaubar; sie verdeutlichen durch hohe Prägnanz und durch emotionale Tönung. Sie sind Ausdruck eines sozialen Konsenses innerhalb einer Gemeinschaft und vermitteln die Erfahrung der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen. Indem der Einzelne sich mit den Sichtweisen einer Gruppe identifiziert, gewinnt er soziale Identität.
Wenn es sich bei Stereotypen um sozial vorgefertigte Muster handelt, die Orientierung und Identität vermitteln, was sind dann Vorurteile? Leisten sie als eindeutig falsche Urteile nicht gerade das Gegenteil von Orientierung und Identitätsstiftung? Manche Stereotype erscheinen uns problematisch, z. B. die Vorstellung der Großelterngeneration von der Frau in der Gesellschaft. Wir sprechen vom traditionellen Rollenverständnis, von dem wir uns distanzieren, allerdings indem wir auf eine Weltsicht Bezug nehmen, die immerhin früher Sinn gemacht hat. Treffen Vertreter verschiedener Kommunikationsgemeinschaften aufeinander, etwa Mitglieder verschiedener politischer Parteien, lassen sich Einseitigkeiten der jeweils anderen Standpunkte feststellen. Sind die Ansichten der anderen falsch? Es geht hier um das Annehmen oder Ablehnen von Sichtweisen und Weltbildern, von verschiedenen Bezügen zur sozialen Wirklichkeit. Nicht nur in der Geschichte einer Gesellschaft, sondern auch zwischen verschiedenen Gruppen in dieser und vor allem zwischen Kulturen herrschen verschiedene, manchmal unverträgliche kollektive Vorstellungen. Fremde Weltbilder können eine exotische Ausstrahlung haben, sie können uns faszinieren, wenn wir sie als eine Bereicherung unserer Sichtweise erfahren; wenn sie jedoch unsere Orientierung und Identität bedrohen, bezeichnen wir sie als Vorurteile.
Im Vorurteil, das immer nur die anderen haben, erscheinen uns Defizite, Übertreibungen und Fehler augenfällig, die wir in unseren eigenen Stereotypen nicht wahrnehmen. Vorurteile sind Vorstellungen, die in der Kommunikation nicht mehr tolerierbar erscheinen; es handelt sich um Stereotype, die zwar die Verständigung innerhalb von Kommunikationsgemeinschaften erleichtern, aber Barrieren der Kommunikation zwischen verschiedenen Gemeinschaften bedeuten. Deshalb sind Vorurteile mit sozialen Konflikten verbunden.
Als Versatzstücke von Weltbildern sind Stereotype und Vorurteile wesentliche Elemente unserer Orientierung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das Aufeinandertreffen verschiedener Kommunikationsgemeinschaften mit ihren spezifischen Stereotypen ist ein Strukturproblem der modernen, durch Pluralität und Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft. Als Barrieren der Kommunikation fordern Vorurteile unsere Kommunikationsfähigkeit heraus, das heißt vor allem Beherrschung der Sprache auch der andern Seite, Toleranz und Respekt vor anderen Menschen und anderen Sichtweisen.
Autor/in: Bernd Schäfer (Sozialpsychologe), 12.12.2006