Wahrheit und Wirklichkeit im (west-)deutschen Film
Baustelle oder Abenteuerspielplatz, Anlaufpunkt für Sonderlinge oder Konsumtempel der Kulturschickeria, Gemisch verschiedenster Nationalitäten und architektonischer Experimente: Eine ganze Reihe von Filmen, die auf der Berlinale 1999 präsentiert wurden, nutzt Berlin als Schauplatz und thematisiert die Vielfalt der Lebensentwürfe in der neuen Hauptstadt. Damit scheint, am Ende der 90er Jahre, eine Form von sozialer Realität ins deutsche Kino eingezogen zu sein, deren Fehlen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sporadisch beklagt, um die aber auch immer wieder gekämpft wurde.
Filme wie Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, 1946) und In jenen Tagen (Helmut Käutner, 1947) waren es, auf die sich die Hoffnungen der deutschen Filmkritik nach Kriegsende richteten. Man forderte vehement eine Aufarbeitung der Vergangenheit und eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart und beides schien der – erst im Nachhinein so genannte – Trümmerfilm zu versprechen. Seine Schauplätze sind halb zerstörte Häuser und Straßenzüge, die im Nichts enden. Und wenn auch seine Geschichten sich um Individuen ranken, denen es in "schweren Zeiten" – genauer wurde auf die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit nicht eingegangen – gelungen war, nach ihrem inneren Bezugssystem moralisch-ethischer Maßstäbe zu handeln und "anständig" zu bleiben, zeigen doch die Außenaufnahmen ein solch eklatantes Ausmaß an Zerstörung, dass die Nachkriegsrealität als Folge von nationalsozialistischer Diktatur und Zweitem Weltkrieg ständig präsent ist. Die Trümmerfilme, noch vor der Gründung der beiden deutschen Staaten mit besonderen Genehmigungen der alliierten Besatzungsmächte produziert, waren erste vorsichtige Versuche, die bedrückende Vergangenheit und unsichere Gegenwart aufzuarbeiten und damit die soziale Wirklichkeit, die das nationalsozialistische Kino weitgehend ausgeblendet hatte, wieder auf die Leinwand zurückzuholen. Das Publikum mochte – gerade deswegen – die Trümmerfilme nicht.
"Der europäische Film war immer dann am besten, wenn er am meisten bei sich selber war. Der italienische Film sollte so italienisch sein wie möglich, der französische so fran-zösisch, der deutsche so deutsch. Wer glaubt, den Amerikanern die Stirn bieten zu können, indem er sie imitiert, der wird scheitern. Das Original wird dem Imitat stets überlegen sein." (Günter Rohrbach, Produzent)
Die kurze Phase inhaltlicher und formaler Neuorientierung der frühen Nachkriegsjahre wich nach Gründung der Bundesrepublik einer Rückbesinnung auf Bekanntes und Vertrautes: Im Heimatfilm beschwört die von Kriegsereignissen unberührte Landschaft ein Bild von Kontinuität und heiler Welt, in der die Menschen in ein tradiertes, gegen politische und gesellschaftliche Veränderungen resistentes Regelsystem eingebunden sind. Der bis in die späten 50er Jahre ökonomisch ausgesprochen erfolgreiche Heimatfilm spiegelt den restaurativen Geist der Adenauer-Ära wider und ist gleichzeitig Synonym für die Filmkrise, in der sich die junge Bundesrepublik aus der Perspektive zeitgenössischer Filmkritiker bis Mitte der 60er Jahre befand.
"Die Krise – ob herbei geredet oder real – gibt eine neue Chance, zwingt uns, wieder an das Publikum zu denken. Man merkt dem Produkt an, wenn es aus kaltem Produzenten- oder Verleiherkalkül zusammengebastelt ist. Der deutsche Film muss überraschend vielseitig und unberechenbar werden oder bleiben." (Dani Levy, Regisseur)
Das 1962 auf den 8. Westdeutschen Kurzfilmtagen veröffentlichte Oberhausener Manifest, in dem junge Regisseure den neuen deutschen Film forderten und der wirtschaftliche Zusammenbruch der etablierten Filmindustrie um die gleiche Zeit, markieren den Beginn einer Phase, in der bundesdeutsche Filme gerade wegen ihrer Beschäftigung mit dem Alltag und der Geschichte internationale Reputation erlangten. Vor dem Hintergrund der Studentenbewegung und der gesellschaftlichen Umbrüche fanden die halb- dokumentarischen Arbeiten von Regisseuren wie Alexander Kluge und Edgar Reitz, von Volker Schlöndorff und Wim Wenders auch hier zu Lande ein Publikum, das nun endlich bereit war, sich mit der sozialen Realität auseinanderzusetzen. Die jungen Regisseure thematisierten die Probleme ihrer eigenen Generation, drehten mit Laiendarstellern und an Originalschauplätzen, häufig mit der Handkamera und in Schwarzweiß. Damit erreichten sie eine bis dahin in der Bundesrepublik unbekannte Authentizität. So fand beispielsweise Wim Wenders visuelle Äquivalente für die Seelenzustände seiner wortkargen Helden, wie Orte, Situationen, Landschaften, die gleichzeitig Bestandsaufnahmen westdeutscher Topographie sind und damit die kulturelle Identität der Republik widerspiegeln. Und Rainer Werner Fassbinders Melodramen Die Ehe der Maria Braun (1978), Lili Marleen (1980), Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1981) schlagen, zusammengenommen, einen großen historischen Bogen vom Nationalsozialismus zur Wirtschaftswunder-Gesellschaft und sind als handwerklich perfekte, ästhetische Interpretationen deutscher Geschichte immer noch herausragend in der Filmproduktion seit dem Zweiten Weltkrieg. Die seichten Gesellschaftskomödien der späten 80er und frühen 90er Jahre dagegen dokumentieren die gesellschaftliche Verunsicherung im wiedervereinigten Deutschland, das erst einmal auf Bewährtes zurückgriff. Vielleicht mit den vereinigten kreativen Kräften aus Ost und West scheint Deutschland zur neuerlichen filmischen Auseinandersetzung mit der Realität bereit zu sein.
"Ich würde mir wünschen, dass man durch unsere Filme ein Gefühl für Menschen bekommt, die hier leben. Ich möchte Filme machen, die Neugierde wecken, die etwas mit der deutschen Gegenwart zu tun haben und unsere Wirklichkeit widerspiegeln." (Hans-Christian Schmid, Regisseur)
"Wenn man irgendwelche Muster nachstrickt, die nichts mit einem selber zu tun haben, den fünften Tarantino-Aufguss präsentiert oder Killermythen verbreitet, die es in Deutschland so nicht gibt, muss man sich nicht wundern, wenn das Publikum sich verweigert. Man muss ihm ein in irgendeiner Form attraktives Angebot unterbreiten." (Helmut Dietl, Regisseur)
"Der deutsche Film muss sich auf seine eigene Stärke zurückbesinnen, muss authentisch sein und die Handschrift des Regisseurs spüren lassen. Mit Action oder Komödie können wir auf dem Weltmarkt nicht reüssieren. Nur die nationale oder lokale Identität ist wirklich 'international' konkurrenzfähig." (Heinz Badewitz, Festivalleiter Hof)
Autor/in: Daniela Sannwald, 09.08.1999