Hintergrund
Juden in Deutschland und Mitteuropa nach 1945
In Deutschland lebten 1933 vor der Machtergreifung Hitlers 515.000 Juden. 1945 hatten schätzungsweise 5.000 bis 9.000 von ihnen den Holocaust in der "Illegalität" überlebt, etwa 14.000 waren durch ihre Verbindung zu nicht-jüdischen Ehepartnern der Massenvernichtung entgangen, weitere 8.000 bis 9.000 hatten Todesmärsche, Konzentrationslager Transporte überstanden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die überlebenden Juden verschiedener Herkunft und Nationalität überwiegend in Lagern für "displaced persons" untergebracht, 1946 waren das etwa 74.000 Menschen, darunter etwa 15.000 deutsche Juden. Ihr Aufenthalt galt als temporär, Rückkehrwillige aus dem Exil wurden von den politischen Repräsentanten im Westen eher entmutigt und das Central Committee for Jewish Liberatees konzentrierte sich ganz auf die Hilfe zur Auswanderung. Mit der Ära Konrad Adenauer setzte eine allgemeine Gesetzgebung zur "Wiedergutmachung" ein, die im Wesentlichen eine finanzielle Kompensation der durch das Dritte Reich Geschädigten vorsah. Nicht wenige Juden lehnten diese Form des Umgangs mit der Vergangenheit als "Blutgeld" ab. In den 1950er- und 60er-Jahren lebten etwa 20.000 bis 30.000 Menschen jüdischen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland, zum großen Teil waren das Ältere und Kranke, die nicht in die USA oder nach Palästina emigrieren konnten. Vor diesem Hintergrund konstituierte sich aber langsam ein neues jüdisches Gemeindeleben, wobei die Juden osteuropäischer Herkunft in der Mehrzahl waren und die Repräsentanz überwiegend von Juden deutscher Herkunft besetzt war.
Juden in der DDR
In den ersten Nachkriegsjahren kehrten überwiegend kommunistische Juden in die sowjetisch besetzte Zone zurück. Nach der Teilung Deutschlands im Jahre 1949 gab es 8.000 Juden in Ostdeutschland. Die daraus hervorgegangene DDR verstand sich als antifaschistischer Staat, deren Eliten sich als radikale Opposition zum Nationalsozialismus definierten. Durch diese antifaschistische Staatsdoktrin fühlten sich Juden ermutigt, zurückzukehren. Doch hinter der Würdigung der kommunistischen Opfer und ihres Heldentums verschwand gleichzeitig der Massenmord an den Juden beziehungsweise auch die besondere Bedeutung und Singularität des Holocaust. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit existierten offiziell nicht, jüdische Kultur, die Verfolgung und Ermordung der Juden war kein Thema, Juden waren den Kommunisten und Widerstandskämpfern gleichgestellt und also beim Bezug von Wohnungen oder bei der Ausbildung bevorzugt, die jüdischen Gemeinden klein und unbedeutend. 1979 wurden anlässlich des 30. Jahrestags der Gründung der DDR erstmalig Juden als Juden im kommunistischen Staat willkommen geheißen. Nach dem Zusammenbruch der DDR traten antisemitische und rassistische Strömungen scharf zutage.
Nach der Wende
1989 wurden im vereinigten Deutschland 28.000 Juden als Mitglieder der Gemeinden gezählt und weitere 20.000 bis 30.000 Nicht-Gemeindemitglieder geschätzt. Jährlich kommen ca. 10.000 Menschen, vor allem aus Osteuropa und Russland, in den Gemeinden hinzu. Seit 1991 nimmt die Bundesrepublik Deutschland Juden und ihre Angehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion als "Kontingentflüchtlinge" auf. Die jüdischen Gemeinden, zusammengeschlossen im Zentralrat der Juden in Deutschland, konnten an vielen Orten mit Hilfe der Zuwanderer/innen wieder aufgebaut werden; ihr großer Anteil im Gesamtverhältnis 2:1 bedeutet für die jüdischen Institutionen allerdings eine riesige Integrationsaufgabe. Binnen zwanzig Jahren ist allein die Zahl der Gemeindemitglieder von 30.000 auf 105.000 im Jahr 2005 angewachsen. Gegenwärtig ist die jüdische Gemeinde in Berlin mit 12.000 Mitgliedern die größte in Deutschland, die in Frankfurt am Main die zweitgrößte. Das Leben in den Gemeinden spiegelt eine wiederkehrende Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland wieder – von liberal bis orthodox. Allerdings ist auch der Antisemitismus in bedenklichem Umfang wieder angestiegen und mit ihm alte Vorurteile und Stereotype.
Juden in den Niederlanden
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zählte die jüdische Gemeinde in den Niederlanden ungefähr 140.000 Mitglieder, davon 14.500 Menschen mit deutschem Pass und 7500 Juden anderer Nationalitäten, überwiegend aus Lateinamerika. 1945 waren die niederländischen Juden nahezu ausgelöscht, ungefähr 12.000 Juden hatten in Verstecken, 10.000 bei nichtjüdischen Verwandten und 5.450 in den Konzentrationslagern überlebt, unter ihnen allen 5.000 deutsche Juden, die vor Kriegsbeginn als Flüchtlinge gekommen waren. Die jüdische Bevölkerung erhielt nach dem Krieg keine besondere Unterstützung, die Überlebenden wurden zunächst weiter nach den Rasse-Kriterien der ehemaligen Besetzer definiert. Während die Mehrheit der Bevölkerung begann, ihre aus der Situation vor der Okkupation herrührenden Unterschiede in eine gemeinsame Opferidentität umzuschreiben, blieb die jüdische Community ausgeschlossen. Erst Mitte der 1970er-Jahre setzte ein Prozess der Auseinandersetzung ein, in dessen Verlauf sich die Gesellschaft der aktiven Kollaboration und stillen Duldung bei der Vernichtung der Juden durch die Deutschen bewusst wurde. Während die jüdische Vorkriegsgemeinde wesentlich eine Arbeitergemeinde gewesen war, gehörten die Juden der 1950er-Jahre überwiegend der Mittelklasse und oberen Mittelklasse an. Infolge anhaltender Emigration nach USA, Israel, Kanada und Australien sank ihre Zahl auf unter 30.000. Seither ist die Zahl der jüdischen Bevölkerung etwa konstant geblieben; auch in kleineren Städten wurden Synagogen wieder in Betrieb genommen; die Existenz jüdischen Lebens in den 1990er-Jahren ist mit der Vielfältigkeit jüdischen Lebens vor dem Krieg aber nicht zu vergleichen.
Juden in Frankreich
1939 lebten etwa 300.000 Juden in Frankreich, zwei Drittel waren nicht-französischer Herkunft. Nach der Befreiung im Jahre 1944 existierten noch zwei Drittel der Vorkriegsgemeinde, überwiegend Juden französischer Herkunft. Mehr als 80.000 Juden waren deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet worden. Die religiöse und intellektuelle Führung der Gemeinden war dezimiert, andere wollten das Land nicht wieder betreten und emigrierten nach Palästina. Trotzdem war die Situation im Vergleich zu der in anderen europäischen Ländern nicht hoffnungslos: Die jüdische Gemeinde war mit 180.000 Mitgliedern, unter ihnen 20.000 Flüchtlinge, die zweitgrößte in Europa. In den nächsten drei Jahren kamen weitere 35.000 Menschen aus den Lagern für displaced persons hinzu und Menschen, die versteckt überlebt hatten. Jüdische Organisationen verschiedener ideologischer Richtungen bildeten den Zentralverband Representative Council of French Jews CRIF, der sich die Wiedererlangung des geraubten Eigentums, die Unterstützung der Flüchtlinge und die Sorge um die Waisen und "adoptierten" Kinder zur Aufgabe machte. In den 1950er- und 60er-Jahren wuchsen die jüdischen Gemeinden durch den Zustrom hunderttausender Juden aus dem Maghreb, die während der Unabhängigkeitskämpfe aus Algerien, Marokko und Tunesien flüchteten. Diesen Flüchtlingen war das Französische kulturell und sprachlich bereits vertraut. Als der nationale Mythos vom kollektiven Widerstand der Franzosen nach dem Tod von Charles de Gaulle Risse bekam und 1983 mit dem Prozess gegen den ehemaligen Gestapochef Klaus Barbie endgültig abbröckelte, traten auch Leugner des Holocaust wieder in den Vordergrund. 700 000 Juden lebten zu diesem Zeitpunkt in Frankreich. Die Entwicklung führte insbesondere unter den ehemaligen Kindern osteuropäischer Einwanderer zu einer Wiederbesinnung auf die Wurzeln ihrer Herkunft und Religion. Eine ähnliche Wirkung hatte dies auf die Kinder von Juden nordafrikanischer Herkunft, die eine Parallele zwischen dem Schicksal der Juden Europas und der Bedrohung des Staates Israel sahen. Die aus Nordafrika stammenden Juden stellen heute die Mehrheit in den Gemeinden. Ihre Vertreter erhielten bewusst Machtpositionen in den Gemeinden. Jüdische Kultur erlebt gegenwärtig eine Renaissance, die zu einer Wiederbelebung des Jiddischen und einem wachsenden Interesse am Bundismus (osteuropäisch jüdischer Sozialismus) geführt hat.
Autor/in: Esther Dischereit, 21.09.2006