Als erste Frau erhielt in diesem Jahr die Holländerin Marleen Gorris einen Oscar in der Kategorie 'Bester fremdsprachiger Film' für ihre warmherzige Familienchronik
Antonias Welt. Diese Welt ist klein, überschaubar und auf dem Land angesiedelt. Fast fünfzig Jahre, von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute, umspannt dieser außergewöhnliche Bilderbogen über vier Frauen-Generationen. Antonia, Mitte 30, kommt mit ihrer Tochter Danielle nach 20 Jahren in das Dorf ihrer Kindheit zurück. Ihre Mutter liegt im Sterben. Nach deren Tod übernimmt sie den Hof und lebt im Rhythmus der Jahreszeiten, sät und erntet, ist sich selbst genug. Die Dorfbewohner akzeptieren ihre ungewohnte und fremde Lebensweise (ohne Mann) verwundert. Denn Antonia ist Einzelgängerin, die sich von niemandem einschränken lässt und eigenständig ihr Leben in die Hand nimmt – für die damalige Zeit eine Pionierleistung. Sie gilt als Außenseiterin, zu der sich bald auch andere Außenseiter gesellen – der Bauer Bas, ein Witwer mit fünf Söhnen und nach 20 Jahren im Dorf immer noch ein Fremder, der 'Dorfdepp' Lippen Willem, die Russin Olga, die ein Café betreibt, der lebenslustige Kaplan und die behinderte Deedee. Als Danielle zur jungen Frau und Malerin herangewachsen ist, wünscht sie sich ein Kind, aber keinen Vater dazu. Entschlossen packen Mutter und Tochter das Köfferchen, um ein Prachtexemplar von Mann aufzutreiben. Neun Monate später bringt Danielle Therese zur Welt, ein 'Wunderkind', wie sich bald herausstellt. Das Kind lernt beim dörflichen Philosophen und glänzt in der Schule; in der Lehrerin findet Danielle sogar ihre große Liebe. Theresa arbeitet später gleichzeitig als Mathematikprofessorin und als Komponistin und setzt 'ganz nebenbei' mit ihrem Jugendfreund Tochter Sarah in die Welt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...
Doch so einfach macht es sich Marleen Gorris nicht. Zwar erhört Antonia nach Jahren das Liebeswerben des Bauern Bas und gibt ihm alles mit Ausnahme des Eheversprechens, auch die lesbische Liebe ihrer Tochter scheint nicht weiter zu provozieren, und jeder auf dem Hof bekommt ein Stück vom Glückskuchen ab. Doch auch die Schicksalsschläge bleiben nicht ausgespart – Vergewaltigung, Brudermord, Selbstmord, Tod. Wenn Antonia am Ende mit 80 Jahren stirbt, kann sie auf ein ereignisreiches und erfülltes Leben zurückblicken, sie hinterlässt das geordnete Chaos. Der Kreislauf von Geburt und Tod, das Nachwachsen von Generationen wird aus weiblichem Blickwinkel erzählt, Männer spielen nur eine untergeordnete Rolle. Es sind die Frauen, die kompromisslos ihren Weg gehen, Änderungen hervorbringen, ihre eigene Welt schaffen, ohne sich um Konventionen zu kümmern. Gorris inszeniert jedoch kein rigides feministisches Elaborat, das nur einem Insider-Kreis verständlich wäre, sondern eine 'Comédie humaine', besser gesagt eine 'Comédie féministe'. Dabei verzichtet sie nicht auf Märchenelemente, betont aber die Realitätsnähe der Ereignisse: "Alle Märchen handeln von unserer Sicht der Welt oder der Welt, wie wir sie gerne hätten. Das gilt auch für
Antonias Welt." Die Frauen brauchen keinen Märchenprinzen, der sie wachküsst, sondern sie sind wacher, als alle Männer des Dorfes zusammen, sie sind ihrer Zeit voraus und dennoch Produkt ihrer Zeit. Emanzipation heißt bei ihnen nicht, sich oder jemandem Stärke zu beweisen, sondern die Frauen sind einfach stark, weil sie sich auch Schwäche erlauben. Ihre Souveränität und ihr Wille lässt Unmögliches möglich werden. Der Regisseurin gelingt die glaubwürdige Zeichnung sehr unterschiedlicher Figuren, die zum Alltag Antonias gehören und die man ins Herz schließt.
Antonias Welt gehört zu den wenigen Filmereignissen, die den Zuschauer, besonders die Zuschauerin mit glücklich-roten Bäckchen in die Wirklichkeit entlassen. Eine kraftvolle Hommage an das Leben und die Liebe, voller Poesie, Gefühl und Sinnlichkeit, bei der die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verschwimmen. Die Matriarchin Antonia nährt die Hoffnung, dass Frauen eine bessere, eine menschlichere Welt schaffen könnten. Das muss vielleicht nicht stimmen, aber glauben möchten wir es trotzdem. Und Glaube versetzt bekanntlich Berge.
Autor/in: Margret Köhler, 01.08.1996