Inhalt
2016 wird der russische Geschäftsmann Michail Chodorkowski voraussichtlich seine Haftstrafe abgesessen haben. 13 Jahre hat er dann im Gefängnis verbracht, wegen – so die Anklage – Steuerhinterziehung, Geldwäsche und der Unterschlagung von Millionen Tonnen Öl. Bei seiner Festnahme im Jahr 2003 war Chodorkowski der wohl reichste Mann Russlands. Er hatte eine der ersten Privatbanken des Landes gegründet und den maroden staatlichen Ölkonzern Jukos zu einem erfolgreichen Unternehmen umgewandelt. Zunehmend kritisierte er aber die Regierung unter dem damaligen Präsidenten Wladimir Putin und warf ihr Korruption vor. Die Gründe für Chodorkowskis Inhaftierung sind umstritten: Während er vor Gericht für schuldig befunden wurde, sehen ihn internationale Menschenrechtsorganisationen als politischen Gefangen, der mit oppositionellen Meinungen aneckte. Der investigative Dokumentarfilm des russischstämmigen deutschen Regisseurs Cyril Tuschi porträtiert den kontroversen Oligarchen und hinterfragt die Ereignisse um seine Inhaftierung.
Umsetzung
Fünf Jahre lang hat sich Tuschi auf die Spuren von Chodorkowski begeben. Großteils nähert er sich ihm durch Interviews mit Wegbegleitern aus Politik, Wirtschaft und Familie. Hin und wieder werden Passanten oder Bekanntschaften des Regisseurs befragt. Auf diese Weise zeichnet Tuschi ein vielseitiges Bild von Chodorkowski, das Fakten, unterschiedliche Erzählungen, Kritik und kontroverse Meinungen nebeneinanderstellt. Zitate aus einem Briefwechsel Tuschis mit Chodorkowski sowie Bildmaterialien und Fernsehberichte belegen beziehungsweise bebildern das Gesagte. Doch Tuschi stößt permanent an die Grenzen des Recherchierbaren. Diese "Lücken" füllen Animationssequenzen, die die Ereignisse künstlerisch interpretieren. Emotionalität verleiht dem sonst vor allem von nüchternen "Talking Heads" dominierten Film auch die Filmmusik: Eine Sinfonie von Arvo Pärt, gewidmet Chodorkowski im Zeichen der Menschenwürde. Höhepunkt und Abschluss des Films bildet ein Interview mit Chodorkowski im Gerichtssaal.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
Die Umstände von Chodorkowskis Aufstieg und Fall sind eng verwoben mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Russlands vom Sozialismus zum Kapitalismus. Daher bietet sich der Film an, um die neuere Geschichte des Landes zu rekapitulieren. Aufgrund der Komplexität von Thema und Darstellung eignet sich der Film jedoch vor allem für die Oberstufe. Vor dem Kinobesuch sollte ein Grundwissen zu Sowjetunion, Perestroika und dem Russland von heute vorhanden sein, damit die im Film geschilderten Vorgänge nachvollziehbar sind. Da auch Spekulationen und ambivalente Positionen präsentiert werden, empfiehlt sich zudem eine sorgfältige Nachbereitung: Was ist Fakt, was Vermutung oder Meinung? Wie geht der Film inszenatorisch damit um, dass im "Fall Chodorkowski" noch viele Fragen offen sind? An seinem Beispiel können darüber hinaus universelle Werte wie die Würde des Menschen und Meinungsfreiheit diskutiert werden, und warum gerade dieser Fall weltweit Aufsehen erregt.

Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Marguerite Seidel, 17.10.2011, Vision Kino 2011.