Es gießt in Strömen. Völlig aufgelöst stolpert ein offensichtlich geistesverwirrter Mann über nächtliches Straßenpflaster. Er raucht, das Wasser rinnt ihm über die Brille, in zwanghafter Wiederholung und stakkatoartig stößt er unentwegt Sätze aus: "Daddy sagt, ich habe keine Seele" und "Früher hat man unsereins zu Steaks verbrannt." Eine freundliche Wirtin erbarmt sich des kuriosen Sonderlings und öffnet ihm die bereits geschlossene Gaststätte. Er setzt sich an das Kneipenklavier und beginnt ein begnadetes Spiel.
Der Film erzählt die dramatische Geschichte des 1947 im australischen Melbourne geborenen Pianisten David Helfgott. Bereits die Eingangsszene deutet an, wie sich hier offenbar ein individuelles Trauma mit dem kollektiven Trauma des Holocaust verwoben hat. Drei sorgfältig inszenierte Rückblenden skizzieren entscheidende Ereignisse aus Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben des David Helfgott. Seine Eltern haben das Konzentrationslager Auschwitz überlebt und versuchen in den 50er Jahren als völlig mittellose Immigranten mühsam in Australien Fuß zu fassen. Der ganze Ehrgeiz des Vaters konzentriert sich auf das Wunderkind David, der bereits große Werke der Klavierliteratur nach dem Gehör spielen kann. "Du musst immer gewinnen!", schärft ihm der Vater vor jedem Wettbewerb ein, worauf der Sohn aus lauter Angst und Nervosität 'nur' zweiter wird. Was dem Vater auf Grund grausamer Umstände verwehrt war, soll der Sohn auf jeden Fall erreichen: ein guter Musiker zu werden. Die Psychologie nennt dieses auch heute keineswegs seltene Phänomen eine Delegation, die Übertragung eines unerfüllten Lebenswunsches von der einen Generation auf die nächste. Der Sohn muss der Beste werden, die Nummer eins, ein gefeierter Virtuose, der im tosenden Applaus des Publikums dem Vater für einen Moment lang Erlösung aus dem Höllenkreis der Erinnerung verschaffen kann. Die auf den Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer hat er sich wegoperieren lassen. Die Kinder wollten beim (seltenen) Spielen immer die Stelle sehen, wo der Vater "mit dem Löwen gekämpft hat". Die psychischen Spuren des Terrors jedoch, und das zeigt der Film mit eindringlicher und sensibler Deutlichkeit, bleiben unauslöschlich und prägen noch die 'zweite Generation'. Die Mutter spielt im Leben des David Helfgott keine bedeutende Rolle. Vielleicht ist sie durch ihre Erlebnisse in Auschwitz so geschwächt, dass sie den Sohn nicht vor der Willkür des Vaters zu schützen vermag. Armin Mueller-Stahl spielt den Vater als in sich verschlossenen eisernen Patriarchen. Das oberste Gut, das ihn am Überleben hält, ist die neugeschaffene, eigene Familie. "Diese Familie wird nicht zerstört", schleudert er seinem Teenager-Sohn wutentbrannt entgegen und schlägt ihn zu Boden, als dieser, begierig nach Freiheit und besserer Ausbildung, ein langersehntes Stipendium am Royal College of Music in London annehmen will. Seine Gefühle dem Sohn gegenüber kann er nur offenbaren, wenn dieser abwesend ist. Lächelnd blättert er durch ein Album mit fein säuberlich aufgeklebten Kritiken, weinend lauscht er dem Mitschnitt eines Rachmaninov-Konzerts, den David ihm aus England geschickt hat.
Die Jahre am Royal College entwickeln Davids Talent aufs wundervollste. Er genießt den Umgang mit den Kommilitonen, lässt sich die Haare wachsen, geht in Nachtbars, raucht Zigarren und übt wie ein Besessener. Ein gütig-exzentrischer Professor (ein Kabinettstück: der 91-jährige John Gielgud) stärkt sein Selbstvertrauen und führt sein Spiel zu höchster Intensität. Bei einem Abschlusskonzert spielt er das 3. Klavierkonzert in d-moll von Rachmaninov, als ginge es um sein Leben. In einem furiosen Crescendo kreist eine entfesselte Kamera um den extatischen Pianisten; Aussetzer auf der Tonspur und taumelnde Bilder ziehen den Zuschauer suggestiv in die Innenwelt eines Nervenzusammenbruchs. Stille. Psychiatrie, Elektroschocks, Beschäftigungs- und Musiktherapie. Einmal ruft David seinen Vater aus der Klinik an, doch dieser hängt ein. Der Vater, der ihn verstoßen und verflucht hat, stirbt ohne ein versöhnendes Wort, was den Sohn innerlich zerstört: "Daddy sagt, ich habe keine Seele."
Dann – bricht ein Wunder aus, das den Zuschauer ebenso beglückt, wie den Protagonisten. Omnis vincit amor – alles besiegt die Liebe, sagt Ovid. Eine lebenskluge Astrologin mit schönem Haus und Swimming-pool gibt David das Ja-Wort, schenkt ihm zum ersten Mal im Leben einen Ort der Geborgenheit und akzeptiert bedingungslos seine liebenswerten Schrullen. Wie Phönix aus der Asche wird er dann zu einem international gefeierten Pianisten.
Shine, auf dem Sundance Festival 1996 mit dem Publikumspreis bedacht, ist großes Gefühlskino; gleichzeitig ein bewegender Beitrag gegen die immer wieder auftauchende, unakzeptable Forderung nach einem 'Schlussstrich unter die Erinnerung an die Gräuel der Nationalsozialisten. Und obendrein ist Regisseur Scott Hicks auch noch ein hinreißender Musikfilm gelungen.
Autor/in: Christiane von Wahlert, 01.03.1997