Seit 13 Jahren arbeitet Val, die ihre Tochter Jéssica im Nordosten Brasiliens zurückgelassen hat, als Haushälterin und Nanny für eine gut situierte Kleinfamilie in São Paulo. Pflichtbewusst kümmert sie sich um alles. Für Fabinho, den 17-jährigen Sohn, ist sie wie eine zweite Mutter. Stets hält sie sonst Abstand, nie würde sie sich erdreisten, mit der Familie am Tisch zu sitzen oder den Swimmingpool zu benutzen. Inzwischen erwachsen, kommt Vals selbstbewusste Tochter eines Tages in die Stadt, um die Aufnahmeprüfung fürs Architekturstudium zu absolvieren; sie wohnt vorübergehend im Haus der Familie. Als sie dem introvertierten Hausherrn auf Augenhöhe begegnet, sich keinen Deut um die strengen Sitz- und Essregeln schert und auch noch ausgelassen ins Schwimmbecken springt, geraten sowohl Vals Weltbild als auch die Ordnung im Haus bald gehörig durcheinander. Nachdem Jéssica offenbart hat, dass sie inzwischen selbst Mutter eines Kindes ist, folgt Val ihrem Herzen und entscheidet sich für ihre Tochter.
Der leichthändig inszenierte, mit feinem Humor und viel Gespür für Distinktionen erzählte Film entwickelt den Kern seiner Geschichte, wie eingeschliffene Verhältnisse langsam aufbrechen (können), in Form einer Sozialkomödie mit subtil-kritischen Untertönen. Um das herzerwärmende Bekenntnis der Protagonistin zu ihrer Tochter darzustellen, bedient er sich bei allem Realismus am Ende auch märchenhafter Wendungen. Die Zeichnung der Figuren und Charaktere vermeidet Karikaturen und Klischees weitgehend, die Erzählung überzeugt vor allem durch die schauspielerischen Rollenverkörperungen von Mutter und Tochter im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Fast ausschließlich am Schauplatz des herrschaftlichen Hauses angesiedelt, nimmt der Film häufig die Hauspersonal-Perspektive der Sympathieträgerin ein, etwa wenn die Kamera Blicke in das Esszimmer der Familie begrenzt und stattdessen zeigt, wie Val den Gesprächen an der Tür lauscht – stets bereit, die Wünsche der Herrschaften am Tisch zu erfüllen.
Das Thema, dass Mütter ihre eigenen Kinder für eine Arbeit als Kinderfrau bei Wohlhabenden in der Stadt verlassen (müssen), eröffnet ungeachtet aller sozialen und kulturellen Differenzen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Film – nicht zuletzt über eine nähere Betrachtung der ungezwungen und selbstbewusst heranwachsenden Jéssica im Vergleich mit ihrem Altersgenossen Fabinho. Mit Hilfe einer Analyse der „einfachen“, den Werten ihrer Herkunftsschicht verpflichteten Figur der Val im Kontrast zu den Charakteren der modern-ungebundeneren Mittelschichtsfamilie kann man Aspekte des gesellschaftlichen Wandels in Brasilien diskutieren. Am Beispiel der dargestellten großbürgerlichen Familie lassen sich charakteristische Merkmale herausarbeiten, wie über Regeln soziale Beziehungen generiert werden und wie die damit verbundene Ordnung durch das Handeln einer nicht angepasst Heranwachsenden vorübergehend aus dem Lot zu geraten droht. Das lässt sich anhand von Kameraperspektiven zeigen, die die sozialen Räume der Handelnden differenziert erfassen.
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Reinhard Middel