Inhalt
Der Comic-Zeichner Thomas nimmt nach einer Geschäftsreise versehentlich den falschen Zug. Er muss in einem französischen Bergort umsteigen, welcher sich als Ort seiner Kindheit entpuppt. In der Wartezeit auf den richtigen Zug schlendert der Mittfünfziger durch das Dorf, das er seit der Beerdigung seiner Mutter vor zwanzig Jahren nicht mehr besucht hat. Schmerzhaft erinnert er sich beim Besuch ihres Grabes daran, wie der Vater ohne Ankündigung die Familie verlassen hat. Nach einer plötzlichen Ohnmacht erwacht er, traumgleich, in genau dieser Zeit. Es ist der Sommer 1967, und er ist wieder 14 Jahre alt. Erneut muss Thomas zur Schule, hilft seinem Vater im Schneideratelier, macht Besorgungen für seine Mutter und erlebt die erste Liebe. Doch diesmal ist alles ganz anders, und er erkennt, dass er möglicherweise die Familientragödie abwenden kann, durch die er, seine Mutter und seine Schwester damals alleine zurückgelassen wurden.
Umsetzung
Sam Garbarski (
Irina Palm), gelingt es die preisgekrönten Manga-Bilder des renommierten japanischen Künstlers Jiro Taniguchi in eine eigene Realbilderwelt zu überführen, die in ihrer Formensprache der Vorlage in nichts nachsteht. Der Ort wurde von Japan der frühen 1960er ins ländliche Frankreich der späten 1960er verlegt, ansonsten bleibt der philosophische Kern der Vorlage unverändert. Die dramatische Innerlichkeit zwischen Reflexion und Aufgewühltheit, in die der Protagonist versetzt wird, setzt der deutsch-belgische Filmemacher in bewegende und atmosphärisch dichte Bilder um, ohne dabei besondere Spezial- oder Kameraeffekte bemühen zu müssen. Die Reise in die Jugend ist für Thomas Schrecken und Wunder zugleich, der Zuschauer nimmt die Metamorphose des Helden (so wie dieser selbst) als gegeben hin und taucht mit ihm in die möglicherweise veränderbaren Wirren des Schicksals ab. Die Schauspieler sind ausgezeichnet besetzt und vermögen die intensiven Beziehungsgeflechte eindringlich und mit wohlgesetzten dramatischen Momenten umzusetzen.
Vertraute Fremde überragt die üblichen filmischen Zeitreisen durch die genaue psychologische Auslotung, atmosphärisch dichten Bilder und eine zurückhaltende leise und poetische Erzählweise, die dennoch abenteuerlich und spannend genug ist, um auch fantasygewohnte Jugendliche zu fesseln.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
Dieser Film regt zur biographischen Spurensuche an, zu einem genauen Blick auf die verschiedenen Lebensabschnitte, die Menschen durchlaufen, sowie auf die Bedeutung von Schicksal im Leben und in der Kunst. Konkret bietet sich eine Beschäftigung mit biographischen Aufzeichnungen von Menschen in verschiedenen Zeitaltern in unterschiedlichen Lebensabschnitten für den Deutsch- oder Geschichtsunterricht an. Dabei ist es hilfreich, Schüler/innen über eigene bereits erlebte Lebensabschnitte oder Lebensziele reflektieren zu lassen. Der Film kann dabei auch Anlass zu einem Generationenaustausch ("oral history") im schulischen oder privaten Umfeld sein. Für die mit Mangas aufgewachsenen Schüler/innen ist ebenfalls der mediale Vergleich zwischen der graphischer und filmischer Umsetzung im Deutsch oder Kunstunterricht von großem Interesse, welches folglich Lehrenden Lust auf den Umgang mit dieser oft in vielen Werken hochkünstlerischen Form asiatischer Comic-Kunst machen könnte. Für den Französischunterricht empfiehlt sich die Originalfassung, die durch gut verständliche Sprache und ein atmosphärisch stimmiges Bild auf das Frankreich der späten 60er Jahre überzeugt.

Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Dr. Martin Ganguly, 01.04.2010, Vision Kino 2010.