Dawn Wiener hält es einfach nicht mehr aus: Als sich ein hartnäckiger Mitschüler nicht davon abbringen lässt, von ihr abzuschreiben, macht die elfjährige Schülerin einer Junior Highschool in New Jersey ihre Lehrerin auf den Jungen aufmerksam. Diese verdonnert Dawn jedoch wegen Petzens zum Nachsitzen und lässt sie einen Aufsatz schreiben. Als das Mädchen dafür eine schlechte Zensur bekommt, bricht es in Tränen aus, was die sture Lehrerin wiederum so empört, dass Dawn einen weiteren Aufsatz schreiben muss – zum Thema Würde. Diese Szene in
Willkommen im Tollhaus (Originaltitel:
Wellcome to the Dollhouse) von Todd Solondz ist paradigmatisch für die Odyssee der hässlichen Dawn. Nicht genug, dass sie von ihren Mitschülerinnen als "Lesbe" diffamiert und von den Jungen als "Wienerdog" geschmäht wird, auch bei den Lehrern und dem Schuldirektor stößt das hässliche Entlein, dem die Wandlung zum schönen Schwan versagt bleibt, durchweg auf Unverständnis. Geradezu magisch zieht Dawn mit ihren grellen Klamotten, dem watscheligen Gang und der dickrandigen Hornbrille das Unglück an. Auch zuhause, wo die "süße" jüngere Schwester Missy sich bei allen einzuschmeicheln versteht und sich mit einer boshaften Raffinesse auf Kosten Dawns Vorteile verschafft. Von ihrem älteren Bruder Mark, einem biederen Anpassertyp, hat dieses Aschenputtel der US-Vorstädte auch keine Hilfe zu erwarten: Wenn er nicht gerade vor dem Computer sitzt, spielt er als Bandmitglied mit seinen Kumpels in der Garage Musik.
Zuwendung und Liebe bekommt Dawn im Gegensatz zur Möchtegern-Ballerina Missy von ihren Eltern bestenfalls in Sparrationen. Vor allem die starrsinnige Mutter diszipliniert das einsame Mädchen immer wieder, was fast an Psychoterror grenzt. Der enervierende Kleinkrieg treibt die Tochter nur noch weiter ins Abseits. Was Dawn zu sagen hat, wollen weder die unbelehrbare Mutter noch der desinteressierte Vater hören. Der Dialog zwischen den Generationen hängt in dieser konformistischen Mittelstandsfamilie ohne eigenes Profil im Kern davon ab, inwieweit die Sprösslinge den guten Schein nach außen wahren und den Erwartungen der Eltern entsprechen. Eine strikte Beachtung der Durchschnittsnormen fordern auch die anderen Erwachsenen in dieser bizarren Kindheitsstudie. Die Schrecken des kindlichen Höllentrips versucht Solondz dadurch aufzufangen, indem er sie ins Komödiantische wendet: "Es ist eine sehr raue und traurige Komödie – wäre es keine, könnte man den Film nicht durchstehen." Folgerichtig sind die meisten Figuren überzeichnet und als Karikatur angelegt. Hier liegt zugleich die Hauptschwäche der schwarzen Tragikomödie: Neben den rücksichtslosen Erwachsenen taucht keine auch nur ansatzweise positive Gegenfigur auf. Das lässt die Figuren flach wirken und psychologische Tiefenschärfe vermissen, selbst wenn der Film vorrangig nur Dawns subkjektive Sicht wiedergibt.
Im Vergleich zum Hollywood-Mainstream fällt vor allem das außergewöhnliche Kinder-Bild dieser autobiografisch geprägten Independent-Produktion auf, die auf dem Sundance Filmfestival 1996 den Großen Preis der Jury gewann. "Es gibt keine amerikanischen Filme, die realistisch mit Kindern umgehen", so der 36-jährige Regisseur apodiktisch, "entweder sehen sie aus wie süße, kleine Haustiere oder Puppen, oder sie sind schreckliche, böse Monster." Auch wenn Dawn immer wieder Zielscheibe von Hohn und Spott ist, zum passiven Opferlamm wird sie deshalb nicht stilisiert. Tapfer steckt sie die vielen Demütigungen weg und ringt sisyphusgleich um Anerkennung. Aber sie teilt auch selbst aus, etwa wenn sie einen Mitschüler abrupt beschimpft. Die Herausforderung, die große Bandbreite dieser schwierigen Rolle glaubhaft darzustellen, meistert die junge Heather Matarazzo mit Bravur.
Wider Erwarten findet Dawn noch am ehesten Verständnis bei einem besonders brutalen Mitschüler. Brandon bestellt sie unter Androhung von Gewalt zu einem Treffen. Schwankend zwischen nackter Angst und Neugier geht Dawn tatsächlich zu der Verabredung und erkennt bald, dass der Junge selbst ein verunsicherter Außenseiter ist, der vor seinem gewalttätigen Vater flüchtet. Obwohl die Entfremdung zwischen den Generationen hier noch größer ist als in Dawns Familie, entlässt uns der Film am Ende mit einem kleinen Hoffnungsschimmer: Die junge Kämpferin für Anerkennung und Gerechtigkeit wird sich nicht unterkriegen lassen und ihren eigenen Weg finden – auch wenn sie von den Erwachsenen hierbei keine Hilfe zu erwarten hat.
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.11.1996