Brennpunkt Klassenzimmer
Bill. Immer wieder Bill! Warum tragen die Figuren in den Beispielsätzen des Französischlehrers François nur westliche und niemals arabische Namen? Warum nicht einmal Aïssata? Esméralda und die anderen Schüler/innen der 4ème des Collège im 20. Arrondissement von Paris fordern ein, dass auch ihre Lebenswirklichkeit in die Schule Einzug hält. Schließlich kommen sie nicht aus dieser westlichen Welt mittelständischer weißer Franzosen, sondern aus dem Maghreb oder China, aus Familien mit Migrationshintergrund, die nun in den sozialen Brennpunkten der französischen Metropole leben. François nimmt ihre Kritik ernst. Er ist kein Lehrer, der seine Klasse mit strenger Hand führt, aber auch kein naiver Referendar mehr. Seit mehreren Jahren arbeitet François schon an dieser Schule in einem Problembezirk. Er kennt die Sorgen und Nöte seiner Schüler/innen. Und er geht auf sie ein.
Konfliktzone Schule
Es klingt wie eine Utopie: Die Schule als Ort des Austausches, als Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft viel Zeit miteinander verbringen und zusammen arbeiten. Und doch ist der Schauplatz des Films von Laurent Cantet, dem Gewinner der Goldenen Palme bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2008,
kein Schutzraum wie etwa die Kleinschule in Nicolas Philiberts
Sein und Haben (Frankreich 2002), sondern vor allem ein Ort der Auseinandersetzungen. Ständig entladen sich in der Klasse Konflikte, in denen um Integration und Gleichheit, um ethnische Identität und Ausgrenzung gestritten wird. Gesellschaftliche Realitäten und Probleme außerhalb des Klassenzimmers fließen immer wieder in diesen Mikrokosmos ein. Wie unter einem Brennglas beobachtet Cantet in seinem Spielfilm die Beziehungen zwischen dem Lehrer François und den 14- bis 15-Jährigen, ihre mal spielerischen, mal ernsten Machtkämpfe. Mit großem Engagement, geduldig und auf Augenhöhe mit den Schülern/innen versucht der Pädagoge, ihnen einen Zugang zur französischen Sprache zu vermitteln, der ihnen eine spätere Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen soll. Die Grenzen dabei sind offensichtlich: Entweder werden bestimmte Begrifflichkeiten nicht verstanden oder manche Unterrichtsinhalte wirken so weltfremd auf die Schüler/innen, dass sie sich gar nicht erst damit beschäftigen wollen. Vehement fordern sie andere Lernstoffe und -methoden und bringen durchaus ihre eigen
Interessen und Themen zum Ausdruck. Die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Milieus der Jugendlichen machen es umso schwieriger, eine gemeinsame Verständigungsbasis darüber zu finden, was auf welche Art gelernt werden soll. So führt der Film nebenbei vor, wie das System Schule in seiner Funktion als Vermittler feststehenden Wissens in einer multikulturellen Gesellschaft scheitert. Dem kann auch François letztlich nichts entgegensetzen. Doch worum er sich immer wieder bemüht, ist die Vermittlung von Regeln im Umgang untereinander, von Höflichkeit und Respekt. Er lebt ihnen diesen demokratischen Stil vor, auch wenn er selbst sich in einem Streit mit zwei Schülerinnen in seiner Wortwahl vergreifen wird. Diese Entgleisung hat für François keine größeren Konsequenzen. Sie führt jedoch zu einer Reihe von Folgehandlungen, die schließlich in einem Disziplinarverfahren gegen einen Schüler kulminieren.
Mitten im Geschehen
Über die Dauer eines Schuljahres hinweg verfolgt Cantet in seiner Adaption des autobiografischen Romans
Entre les murs von François Bégaudeau, der im Film auch die Rolle des Lehrers übernahm, den Alltag der Klassengemeinschaft. Mit einem wohlwollenden Blick auf die Möglichkeiten der Schule und einem ebenso klaren Blick für die Herausforderungen schulischer Bildung legt er die Rahmenbedingungen der Institution Schule offen und stellt sie unaufdringlich zur Diskussion. Vor allem aber ist sein Film eine Geschichte über Menschen, die alle ihre Stärken und Schwächen haben in einem Schulsystem, das oftmals den realen Lebensbedingungen der Schüler/innen nicht gerecht wird.
Kammerspielartig mutet die Konzentration auf
den Schauplatz Schule an, fast wie ein Versuchslabor – und doch auch sehr lebendig. Dies liegt zum einen an der dokumentarischen Inszenierung, die mit der
Handkamera eine große Nähe zu den Figuren herstellt, ohne voyeuristisch zu sein. Bis auf wenige Totalen des Pausenhofs aus dem Blickwinkel einer
subjektiven Kamera konzentriert sich die Inszenierung auf die Beziehung zwischen François und den Jugendlichen im Klassenzimmer, die meist in nahen und halbnahen
Kameraeinstellungen zu sehen sind. Dadurch versetzt der Film auch sein Publikum scheinbar mitten ins Geschehen. Vor allem aber tragen die dynamischen, authentischen und überraschenden Dialoge den Film. Dank der Laiendarsteller/innen, die über ein Jahr hinweg in Workshops gemeinsam mit dem Regisseur und François Bégaudeau ihre Rollen erarbeitet haben und zumeist sogar im Film ihre realen Vornamen tragen, klingen die Sätze wie aus dem Leben gegriffen. Wenn sich die spitzfindige Esméralda, die trotzige Khoumba oder der aufsässige Souleymane mit ihrem Lehrer auseinandersetzen, geraten Positionen, Argumente und Meinungen in einen stetigen Fluss und zwingen die Sprechenden, ihre Standpunkte immer wieder neu zu bestimmen.
Spannung, Bildungsstandards und eine toskanische Stadt
So dicht und unterhaltsam sind diese Beobachtungen, dass gänzlich auf
Filmmusik, über weite Strecken aber auch auf einen klassischen Spannungsbogen verzichtet wurde. Der Film setzt mit einer Besprechungsrunde des Lehrerkollegiums zu Beginn eines neuen Schuljahres ein und beleuchtet schlaglichtartig Vorkommnisse,
die sich im Laufe eines Schuljahres ereignen: ein neuer Schüler wird der Klasse von François zugewiesen, die Jugendlichen verfassen Selbstporträts, Eltern besuchen die Sprechstunde. Erst im letzten Drittel des Films setzt der verbale Ausrutscher von François eine dramatische Zuspitzung in Gang. Schließlich neigt sich das Schuljahr seinem Ende zu. Wenn das Stimmengewirr auf dem Schulhof verhallt, bleibt Raum zum Nachdenken: Über die Möglichkeiten einer zeitgemäßen Schule, über pädagogische Wunschbilder, über Schlagworte wie „Humankapital“, Leistungstests, Bildungsstandards und eine Zeit, in der mit dem Wort Pisa nur eine Stadt in der Toskana verbunden wurde.
Autor/in: Stefan Stiletto, Medienpädagoge mit Schwerpunkt Filmkompetenz und Filmbildung, 11.12.2008
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.