Im afrikanischen Staat Tschad leben etwa 80 Prozent der Bevölkerung in tiefster Armut, 95 Prozent haben keine Berufsausbildung und es herrscht Mangel an natürlichen Ressourcen. Arbeitswillige Männer verlassen ihre Familien oft über Nacht, um im Ausland Arbeit zu suchen. Viele von ihnen kehren nie mehr zurück und sind als "Phantomväter" in der Heimat verrufen. In seinem zweiten Spielfilm Abouna – Der Vater hat der Regisseur Mahamet-Saleh Haroun dieses traurige soziale Phänomen zum Ausgangspunkt der Handlung gemacht: Er erzählt das Schicksal einer vom Vater im Stich gelassenen Familie in der Hauptstadt N'djamena. Der 15-jährige Tahir und sein kleiner Bruder Amin wollen sich mit dem Verschwinden ihres Vaters nicht abfinden. Gemeinsam durchkämmen sie die Stadt und suchen sogar den Grenzübergang nach Kamerun ab. Bei einem Kinobesuch glauben sie, in einem der Darsteller den Vater zu erkennen und klauen daraufhin die Filmrolle. Als der Diebstahl auffliegt, schickt sie die überforderte Mutter in eine ärmliche Koranschule auf das Land. Hier beginnt für die beiden Brüder ein entbehrungsreicher Lebensabschnitt, der für den einen im Tod, für den anderen in der ersehnten Freiheit endet. – Obwohl der Film existenzielle Themen wie Trennung, Erwachsenwerden, erste Liebe, Krankheit und Tod aufgreift, bleibt er von einer fast beschwingten Leichtigkeit, etwa in der Darstellung alltäglicher Straßenszenen. Soziale Missstände wie die problematische Wasserversorgung im Tschad werden mit einem lachenden Auge kommentiert. In der Kameraführung besticht Abouna durch langsame Kamerafahrten, ausgewählte Farbgebung und beeindruckende Landschaftsaufnahmen. Deutlich sind Anleihen aus der Tradition des europäischen Autorenfilms: Der Traum der Brüder, aus ihrer hoffnungslosen Umgebung auszubrechen und ans Meer zu gelangen, erinnert an Truffauts Klassiker Sie küssten und sie schlugen ihn . Der 43-jährige Filmemacher Mahamet-Saleh Haroun gilt als Hoffnungsträger des jungen zentralafrikanischen Films. Er sieht sich zu Recht als Filmpionier, denn in dem Jahrzehnte lang von Bürgerkriegen heimgesuchten Tschad sind bisher noch nicht einmal eine Handvoll Spielfilme realisiert worden.
Autor/in: Claudia Hennen, 01.04.2004