Versteckt vor den Blicken der Menschen lebt die 13-jährige winzige Arrietty mit ihren Eltern unter den Holzdielen eines Hauses in der Nähe von Tokio. Borger nennen sich diese kleinen Wesen, die ihre Miniaturwelt aus all jenen Dingen zusammenbauen, die die Menschen nicht mehr brauchen oder nicht vermissen. Als Arrietty ihren Vater zum ersten Mal bei einer Entdeckungsreise durch das Haus begleiten darf, wird sie jedoch von Sho entdeckt, einem zwölfjährigen Jungen, der sich bei seiner Großtante auf eine Herzoperation vorbereiten soll. Arrietty hat Angst, denn niemals dürfen die Menschen etwas über die Borger erfahren. Zugleich ist ihre Neugier ist so groß, dass sie in den kommenden Tagen dennoch die Nähe zu Sho sucht.
Aus den Romanvorlagen von Mary Norton, die in den 1950er-Jahren in Großbritannien spielen, hat Drehbuchautor Hayao Miyazaki eine in der Gegenwart angesiedelte, äußerst poetische Freundschaftsgeschichte für ein altersübergreifendes Publikum entwickelt. Ohne Hektik, aber mit einem guten Gespür für die Wünsche und Träume der beiden Protagonisten/innen erzählt das
Anime (japanischer Zeichentrickfilm) von der Begegnung zweier Welten, die niemals wirklich zueinander finden können. Mit dieser tragischen Grundkonstellation knüpft der Film an die Tradition vieler
Animes an, die auf klassische Gut-Böse-Schemata verzichten und in ihrer Erzählhaltung viel Wert auf eine dichte Atmosphäre legen. In der Inszenierung des Regiedebüts von Hiromasa Yonebayashi vermittelt sich diese meisterhaft durch die detaillierten Hintergrundzeichnungen, die mit ihrer
Lichtgestaltung an die Filme von Makoto Shinkai erinnern, sowie durch die melancholische
Harfenmusik der Französin Cécile Corbel.
Insbesondere Arriettys Situation hält viele Bezugspunkte zur Lebenserfahrung von Kindern und Jugendlichen bereit. Wurde sie lange von ihren Eltern behütet und wuchs abgeschirmt von der Außenwelt auf, so beginnt das Mädchen allmählich, sich zu befreien und einen eigenen Weg zu gehen. Ihre Beziehung zu Sho veranschaulicht auf berührende Art und Weise, wie respektvoll sich unterschiedliche Lebenswelten dennoch treffen können, und kann in Fächern wie Ethik oder Religion thematisiert werden. Für die Fächer Deutsch oder Kunst bietet sich vor allem ein Vergleich zwischen japanischen und "westlichen" Zeichentrickfilmen an, die sich deutlich in ihrem Erzählrhythmus und Animationsstil unterscheiden.
Autor/in: Stefan Stiletto, 30.05.2011
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