Kinostart: 07.04.2022 Verleih:Neue Visionen Filmverleih Regie: Jacques Audiard Drehbuch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard nach den Graphic-Novel-Kurzgeschichten "Amber Sweet", "Killing and Dying" und "Hawaiian Getaway" von Adrian Tomine Darsteller/innen: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth u.a. Kamera: Paul Guilhaume Laufzeit: 106 min, dt. F., OmU Format: DCP, 1:1,85, Schwarz-Weiß/Farbe Filmpreise: Internationale Filmfestspiele Cannes 2021: Prix Cannes Soundtrack, Filmfest Hamburg 2021: Art Cinema Award, Europäisches Filmfestival Sevilla 2021: Beste Schauspielerin (Lucie Zhang)
Paris im 13. Arrondissement: Emilie und Camille sind glücklich mit ihrem ungebundenen Leben. Um ihr Einkommen als Telefonistin aufzubessern, nimmt Emilie den jungen Lehrer als Untermieter in der Wohnung ihrer Großmutter auf, die im Pflegeheim lebt. Die Affäre und WG der beiden endet so schnell wie sie begonnen hat, denn sie verlieben sich: Emilie in Camille und Camille wenig später in Nora. Nora ihrerseits will der unverbindlichen Großstadt echte Beziehungen entreißen. Auf einer Uni-Party wird sie allerdings mit dem Webcamgirl Amber Sweet verwechselt und daraufhin hemmungslos gemobbt. Mit vielen Fragen über sich selbst loggt sie sich immer öfter in Amber Sweets erotischen Livestream-Portal ein – bis ihre Gespräche zur realen Begegnung führen. Auf der Suche nach Selbstbestimmung treffen die jungen Erwachsenen in und um die Hochhaussiedlung Olympiades wie Dominosteine aufeinander. Ihre Lebens- und Familiengeschichten spiegeln die Vielfalt des von Migration und Gentrifizierung geprägten Viertels im südlichen Stadtzentrum.
Für das Drehbuch zu seiner neunten Regiearbeit hat sich der bald 70-jährige Jacques Audiard mit den jüngeren Filmemacherinnen Céline Sciamma und Léa Mysius zusammengetan, um gemeinsam den Zeitgeist einzufangen. Zwischen Generationen- und Stadt(viertel)porträt geben episodisch angeordnete Momentaufnahmen Einblick in Lage, Liebesleben und Gefühle der Protagonistinnen und Protagonisten. Sie sind nicht nur durch das Nacheinander ihrer Begegnungen, sondern narrativ mittels Montage miteinander verbunden. Die Bedeutung des Schauplatzes wird anhand des Originaltitels Les Olympiades und eines Establishing Shots aus der Vogelperspektive gleich zu Beginn deutlich. Vor modernistischen Wohntürmen, in Avenuen und Parks im Haussmann-Stil sowie asiatischen Geschäften bewegen sich die Figuren an zahlreichen Originalschauplätzen, die sich zum facettenreichen Bild fügen. Zugleich zeichnen die Schwarzweißaufnahmen eine stilisierte, zeitlose Welt. Sie erweisen Woody Allens Manhattan (1979) Reverenz und übertragen auch die klare Linienführung und entsättigten Farbflächen des US-amerikanischen Comiczeichners Adrian Tomine, auf dessen Kurzgeschichten der Film basiert, ins Filmische. Das Splitscreen-Format, in dem Camille Emilie seinen Auszug verkündet, erinnert ebenfalls an Comicpanels. Einzig Amber Sweets pornografischer Internetauftritt ist in Farbe gedreht. Obwohl virtuell, ist ihre Einführung entscheidend für die Handlung.
Infolge seiner Episodenhaftigkeit streift der Film eine Vielzahl von Themen, die sich je nach Fach und Lernziel herausgreifen und vertiefen lassen. In Französisch, Philosophie und Religion/Ethik bietet die Analyse der Figuren und ihrer Beziehungen Sprech- oder Schreibanlässe, um sich mit Liebe in Zeiten von Dating-Apps und schnellem Sex (der im Film sehr offen dargestellt wird) auseinanderzusetzen. In Kunst oder Deutsch können Dramaturgie und Bildgestaltung untersucht werden. Vergleichen lässt sich der Film mit anderen Großstadtfilmen (zum Beispiel mit Cléo zwischen 5 und 7 und weiteren Paris-Filmen der Nouvelle Vague) oder mit Tomines Comicvorlagen. Anschließend probieren die Schülerinnen und Schüler in filmpraktischen Versuchen oder in fotografischen Arbeiten selbst gestalterische Mittel und deren Wirkung aus. Ausgehend von den familiären und/oder sozialen Verhältnissen der Figuren, können weitere Aspekte erschlossen werden – etwa der Begriff des Postmigrantischen am Beispiel von Emilie und Camille im Kontext des Olympiades-Viertels oder (Cyber-)Mobbing und Missbrauch in Verbindung mit Nora und Louise. Diskutieren lässt sich, inwiefern dem Film die Darstellung all dieser Themen inhaltlich und gestalterisch gelingt.