Kategorie: Filmbesprechung
"Jahrgang 45"
Prenzlauer Berg in den 1960ern: Jürgen Böttchers zu DDR-Zeiten verbotenes Porträt eines jungen Tagediebs
Unterrichtsfächer
Thema
Bildungsrelevant, weil der Film als ästhetisch spannendes Zeitdokument das Lebensgefühl junger Menschen in der DDR greifbar macht.
Die Geschichte: Eine vage Ehekrise
Prenzlauer Berg, Mitte der 1960er-Jahre: Der Automechaniker Alfred und die Krankenschwester Lisa, meist nur Al und Li genannt, sind Anfang 20 und seit zwei Jahren verheiratet. Doch schon hat Al das unbestimmte Gefühl, etwas zu verpassen und reicht die Scheidung ein. Sechs Wochen Bedenkzeit verordnet das Gericht dem Paar. Seine vier Tage Resturlaub nutzt Al für Streifzüge durch Ost-Berlin. Mal besucht er seinen Großvater, der die Trennung kritisiert, mal die Mutter, mal seine Kumpels, die ihm ebenfalls raten, bei Li zu bleiben. Zwischendurch flirtet Al mit seiner Exfreundin Rita, ohne dass sich daraus etwas ergibt, und geht aus Langeweile zur Arbeit in die Werkstatt, wo der Kaderleiter mehr über die angedachte Scheidung erfahren will. Bei einer Tanzveranstaltung trifft er schließlich auf Li, die ihn eifersüchtig macht.
Filmische Umsetzung: Moderne Inszenierung
In seinem einzigen Zum Inhalt: Spielfilm verbindet der Zum externen Inhalt: DEFA (öffnet im neuen Tab)-Regisseur Jürgen Böttcher seinen vom Zum Inhalt: Dokumentarfilm geschulten Blick für Lebenswirklichkeiten mit der Ästhetik der Kinobewegungen seiner Zeit. Wie in den Filmen der Zum Inhalt: Nouvelle Vague oder der Zum externen Inhalt: tschechoslowakischen Neuen Welle (öffnet im neuen Tab) liegt der Fokus auf der Jugend und ihrer Sprache, fängt die Handkamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) das Geschehen an Originalschauplätzen (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set)ein und prägt Experimentierlust die Zum Inhalt: Inszenierung – etwa, wenn Hintergrundgeräusche (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) die Dialoge überlagern und die Figuren plötzlich wie in einem Zum Inhalt: Stummfilm agieren. Im Zentrum des episodischen Schwarzweißfilms steht der junge Alfred. In oft langen Einstellungen folgt die Kamera seinen Streifzügen durch die Stadt und fängt nebenbei auch echte Passanten ein. So entsteht ein Zeitbild, das seine dokumentarische Qualität mit einem formalen Innovationswillen verbindet – und das vom Lebensgefühl einer desillusionierten Jugend in der DDR erzählt. "Ich leb’ heute", sagt Al seiner Mutter. "Heute, das ist meins."
Thema: Filmische Systemkritik
Oberflächlich wirkt "Jahrgang 45" recht unpolitisch. Alfred kreist um sich selbst und bringt allenfalls kleine Spitzen gegen den Staat an. Am deutlichsten ist die Zum Inhalt: Szene, in der ein Kaderleiter wegen der Scheidung nachhakt. "Da ist nichts Politisches dran an meiner Sache", entgegnet Alfred. Dennoch wurde der Film in der Phase des kulturpolitischen Backlashs nach 1965 noch im Rohschnitt verboten. Anstoß nahmen die Zensor/-innen nicht zuletzt am lethargischen Protagonisten. Eindeutiger ist die Systemkritik des Films nämlich in die ästhetische Herangehensweise eingeschrieben. In ihr zeigt sich Böttcher solidarisch mit den jungen Menschen, die sich an westlichen Vorbildern orientieren und deren Lebensgefühl von Enge und Stillstand geprägt ist. Alfred blickt minutenlang vom Balkon in den Garten, zelebriert das Nichtstun, lungert mit seinen Kumpels auf der Straße herum. Auch der Käfigvogel, den Al von seiner Schulter aus füttert, verweist auf ein Gefühl des Eingesperrtseins, das die SED-Führung nicht im Kino sehen wollte.
Fragen für ein Filmgespräch
Wie sind die Straßenszenen im Film inszeniert? Welche Wirkung entsteht durch das Zusammenspiel von Bild und Ton?
Welche Aussagen trifft der Film über die Lebensrealität junger Menschen in der DDR? Wo liegen Unterschiede zur (Groß-)Elterngeneration?
Wie schildert der Film die Ehe zwischen Al und Li? Was bewegt Al zur Trennung, wie reagiert Li darauf?