Hintergrund
Kunst und Macht - eine unendliche Geschichte
17. Juni 1953. Auf der Berliner Stalinallee protestieren Arbeiter gegen erhöhte Anforderungen in der Produktion und gegen die Diktatur der DDR-Regierung. In einem nahe gelegenen Theater inszeniert Bertolt Brecht gerade Shakespeares Drama "Coriolan", in dem die Plebejer des alten Rom den Aufstand proben. Als Arbeiter in den Theaterraum eindringen und von dem großen Dichter einen solidarischen Aufruf verlangen, reagiert er sehr zögerlich. Ihn interessieren ästhetische Probleme mehr als eine Verwicklung in den konkreten politischen Machtkampf.
Die Verstrickung der Kunst
Dies ist kein reales Geschehen, sondern Szene aus einem Theaterstück von Günter Grass: "Die Plebejer proben den Aufstand". Aber so ähnlich könnte es sich ereignet haben. Der Künstler steht stets in Kommunikation mit der Macht. Die Behauptung, Kunst sei gänzlich unpolitisch, ist blauäugig. Sicher, manchmal haben sich Künstler in diese Haltung geflüchtet – zum Beispiel im Dritten Reich, als Maler nur noch Landschaften pinselten und Schriftsteller nur noch über die Liebe schrieben. Man nannte das "innere Emigration". Aber es war nichts anderes als ein Zeichen für die Beziehung von Kunst und Macht, Ausdruck für die Angst des Künstlers in der Diktatur. Denn auch Diktatoren stellen ästhetische Forderungen und wollen sich Künstler als Propagandisten verpflichten.
Der Fall Ovid
Der Maßstab im Verhältnis zwischen Macht und Kunst ist im Lauf der Geschichte lange die Zensur gewesen. Wie frei ein Künstler Form und Inhalt seiner Arbeit selbst bestimmen darf, ist immer ein Anzeiger für die Liberalität von Machtverhältnissen. Einer der ersten offensichtlichen Zensurfälle, die aus der Weltgeschichte überliefert sind, ist die Verbannung des Dichters Ovid aus Rom in ein Dorf am Schwarzen Meer auf Anordnung des Kaisers Augustus. Wie später noch oft hat man schon in diesem Fall die politische Absicht mit der Maske der Moral verkleidet. Verbannungsgrund war angeblich Ovids frivole Schrift "Ars Amatoria". Tatsächlich hatte er nicht, wie sein Kollege Vergil, die offizielle Kaiser-Propaganda bedient und war außerdem noch in eine amouröse Affäre am Hof verwickelt. Der Dichter hat das ewige Rom nie wieder gesehen.
Zeitstücke aus der Antike
Aber schon die Antike zeigt, dass Künstler von den Mächtigen nicht nur unterdrückt wurden, sondern dass sie sich auch kräftig in die Politik einmischten. Die meisten Dramen aus dem alten Griechenland sind Stellungnahmen zu konkreten politischen Ereignissen. "Die Perser" von Aischylos behandelt als erste überlieferte Tragödie Zeitgeschehen, nämlich die damals gerade erst wenige Jahre zurückliegende Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern am Beispiel der historischen Seeschlacht von Salamis. Die Komödienautoren der Griechen setzten die Politiker und ihre Fehler gar mit deutlichem Spott dem Gelächter aus. Ihre Werke sind bis heute selten erreichte Vorbilder für politische Satire und scharf gewürztes Kabarett.
Shake Hands with the Devil
Hofnarren und Reformatoren
Im Mittelalter war nahezu jede Kunst religiöse Propaganda für das Christentum, das die Machtbasis aller Herrscher darstellte. Diese Herrscher hielten sich ihre Kritiker als Hofnarren. Hier war das Ausmaß der Narrenfreiheit ein Zeichen der politischen Verhältnisse. Kaum löste sich das feste Weltbild des Mittelalters in Renaissance und Reformation auf, nahmen die Konflikte zwischen Kunst und Macht wieder zu. Abhängigkeit und Widerstand des Künstlers in dieser Zeit zeigt exemplarisch der Film Inferno und Ekstase am Beispiel von Michelangelo und seinem Auftraggeber Papst Julius II. Im Religionskampf der Reformation bezogen Künstler wie der Poet Hans Sachs oder der Maler Jörg Ratgeb deutliche Positionen. Ratgeb, der auch noch für die aufständischen Bauern Partei ergriff, bezahlte das mit dem Leben.
Citizen Kane
Zwei Seelen in Goethe
Der große William Shakespeare war, wie man spätestens seit dem Filmerfolg
Shakespeare in Love weiß, abhängig vom Wohlwollen der britischen Aristokratie. Der große Molière eckte bei den Spitzen der Gesellschaft mit seinen gesellschaftskritischen Stücken immer wieder an und hatte nur Glück, dass sein Brotherr Ludwig XIV. ein Theaternarr war. Dass ein Künstler, der sich trotz seiner Abhängigkeit von der Macht im Schaffensprozess frei wähnt, nur ein tragischer Narr ist, hat Goethe unnachahmlich in dem Drama "Tasso" gezeigt. Dabei wohnten auch zwei Seelen in Goethe selbst. In "Faust" weckte er als Dichter Verständnis für die Kindsmörderin Margarete. Als Minister und Politiker in Weimar unterzeichnete er für dasselbe Delikt ein Todesurteil. Gewalt gegen
Citizen Kane Sogar Aufklärung und Demokratie haben das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Macht nicht wirklich geändert. Sie wirken sich auf jedes neue künstlerische Medium ähnlich aus. Nehmen wir bloß den Film, der allgemein als einer der wichtigsten in der Kinogeschichte gilt:
Citizen Kane von Orson Welles. Weil sich der Pressezar Randolph Hearst in der Titelfigur karikiert sah, versuchte er die Aufführung des Films mit aller Gewalt zu verhindern. Ein anderes Beispiel: Die Verstrickungen von Filmemachern wie Veit Harlan oder Leni Riefenstahl in den Machtapparat des Nationalsozialismus sorgen bis heute für heftige Diskussionen, wenn ihre Streifen gezeigt werden (s. a. Anhang).
Am Markt der Lügen
Bert Brecht war wie viele andere Künstler von den Nazis in die Emigration nach Amerika getrieben worden. In Hollywood versuchte er, sein Brot auf dem "Markt der Lügen" zu verdienen, wie er schrieb. Vor dem Ausschuss des Senators Joseph McCarthy, der die vermeintlichen Kommunisten unter den Hollywood-Künstlern jagte, musste Brecht aussagen. In einem kleinen Gedicht hat er doch noch Stellung genommen zum Aufstand vom 17. Juni 1953 und der Regierung ironisch geraten, das ungehorsame Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen. Günter Grass, der Brecht zur Theaterfigur machte, hat sich in Wahlkämpfen sogar parteipolitisch engagiert und musste sich in seiner Funktion als Künstler vom politischen Gegner deshalb als "Pinscher" bezeichnen lassen. So ist das, was sich zwischen den Künstlern und den Mächtigen abspielt, immer auch selbst ein Stück Machtkampf. Und damit wieder Stoff für die Kunst.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006