Vier Jahre nach dem hochgelobten Polizei-Drama
Heat ist es Regisseur Michael Mann erneut gelungen, ein anspruchsvolles sozialkritisches Thema in einem fesselnden Mainstream Film zu vermitteln, der trotz seiner beachtlichen Überlänge die Spannung bis zum Schluss souverän auf hohem Niveau hält: Der ehrgeizige TV-Enthüllungsjournalist Lowell Bergman überredet Dr. Jeffrey Wigand, den entlassenen Forschungsleiter eines Zigarettenkonzerns, seine Kenntnisse über illegale Praktiken der Industrie preiszugeben. Als 'Insider' weiß Wigand genau, wie die Tabakindusrie mittels chemischer Zusatzstoffe die Sucht beim Nikotingenuss gezielt steigerte, um damit den Umsatz zu erhöhen. Das brisante Interview mit Wigand soll in der populären Nachrichtensendung "60 Minutes" ausgestrahlt werden. Doch aus Furcht vor milliardenschweren Klagen entscheidet die Führungsspitze von CBS, das Interview aus der Sendung herauszuschneiden. Wigand sieht sich dadurch doppelt im Stich gelassen und steht nach einer üblen Schmutzkampagne, Morddrohungen, einer möglichen Inhaftierung und der von seiner Frau eingereichten Scheidung kurz vor dem Selbstmord. Doch Bergman gibt nicht auf und überreicht das Material einem befreundeten Journalisten der New York Times, wodurch der Skandal doch noch publik wird.
Die Story beruht auf einem authentischen Fall der 90er Jahre in den USA und nimmt Bezug auf den Artikel "The Man Who Knew Too Much" von Marie Brenner im Magazin "Vanity Fair". Sie schilderte 1996 den finanziellen Niedergang und das familiäre Desaster des ehemaligen Tabakmanagers Jeffrey Wigand, der es gewagt hatte, sein Geheimwissen über illegale Praktiken in der Zigarettenindustrie zu veröffentlichen, weil er meinte, dies den betroffenen Menschen schuldig zu sein. Wigand war ein zentraler Zeuge in dem Schadensersatzprozess von 50 US-Staaten gegen die Tabakindustrie, der mit einem Vergleich in Höhe von 246 Milliarden Dollar endete. Im Film spielt der Generalstaatsanwalt von Mississippi, Michael Moore, sich selbst. Er wurde 1994 landesweit berühmt, als er ein Gerichtsverfahren gegen 13 Tabak-Unternehmen eröffnete. Mississippi war damit der erste Bundesstaat, der von den Zigarettenherstellern forderte, die Kosten der medizinischen Behandlung von Rauchern zu übernehmen. Für sein hartnäckiges Engagement erhielt Moore zahlreiche Auszeichnungen.
Dramaturgisch folgt die Revolte Wigands gegen seinen früheren Arbeitgeber im Film dem bewährten Muster der biblischen Erzählung von David und Goliath. Als Wigand aus höherwertigen moralischen Überlegungen seine Verschwiegenheitsverpflichtung bricht, wird er vom Konzern unter massiven Druck gesetzt. Um die dramatische Wucht des Konflikts noch zu erhöhen, wird die David-Goliath-Konstellation auf der Seite des Reporters gespiegelt: Bergman gerät wegen der Feigheit der Programmverantwortlichen plötzlich ebenfalls in die scheinbar aussichtlose Lage des Einzelkämpfers gegen einen übermächtigen Apparat. Indem das profitorientierte TV-Network sich als leicht anfällig für ökonomischen Druck erweist, erweitert sich die kritische Gesellschaftsanalyse auf das rein kommerziell orientierte amerikanische Mediensystem. Ist die öffentliche Aufdeckung von politischen Skandalen und Machtmissbrauch noch garantiert, wenn die Medien ebenfalls nur Teil eines Wirtschaftsunternehmens sind, das sich ökonomisch oder politisch leicht unter Druck setzen lässt?
Im Film wird diese Bedrohung der Pressefreiheit durch die Zivilcourage standhafter Individuen gebannt. Für ihr Engagement gegen skrupellose Profitgier und für Wahrheit und Menschlichkeit zahlen die beiden Helden jedoch einen hohen Preis. Wigand wird von seiner Frau verlassen, die sich an das Luxusleben gewöhnt hat und der Bedrohung durch die Scheidung rasch ausweicht; er verliert seine Kinder und muss seinen Wohlstand aufgeben. Bergman setzt sich zwar am Ende gegen den Sender durch, zieht aber nach dem Vertrauensbruch von Partner und Vorgesetzten die Konsequenzen, indem er den prestigeträchtigen Job aufgibt. Im Abspann des Politdramas, das in diesem Jahr für sieben Oscars nominiert war, erfährt man, dass Wigand nach dem Auseinanderbrechen seiner Familie als einfacher Chemielehrer arbeitet und Bergman sich im öffentlichen Fernsehen und als Hochschuldozent mit weniger publikumswirksamen Tätigkeiten begnügen muss. Das Ende stimmt nachdenklich: Wäre jeder von uns bereit, im Einsatz für das Gemeinwohl so gravierende persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen wie die beiden Helden?
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.04.2000