Filmfest München 2004
The Fog of War (Foto: Filmfest München)
Das 22. Filmfest München stand erstmals unter der Leitung von Festivaldirektor Andreas Ströhl. Mit der neu geschaffenen "Isarmeile", die unter Einbeziehung der Forum-Kinos im Deutschem Museum alle Festivalkinos in Gehweite zueinander verband, erzielte das nach eigenen Angaben "zweitgrößte deutsche Festival" eine Steigerung der Besucherzahlen auf 60.000. In den leicht gestrafften zahlreichen Programmsektionen fanden sich dieses Jahr besonders viele politische Filme, wobei die Dokumentarfilme im Programm häufig prägnanter und spannender als die Fiktion waren.
Shattered Glass (Foto: Filmfest München)
Sieger und Verlierer
Mehrere Filme setzten sich mit der Supermacht USA und ihrer Weltpolitik einst und heute auseinander. Besonders interessant der bereits mit dem Oscar als bester Dokumentarfilm ausgezeichnete
The Fog of War von Errol Morris. Selten konnte man im Film die Entscheidungen sowie Fehleinschätzungen der Machthabenden bei kriegerischen Auseinandersetzungen, belegt durch historische Tonbandprotokolle und Filmaufnahmen, derart konzentriert und desillusionierend nachvollziehen. Freimütig und selbstkritisch berichtet Robert McNamara, amerikanischer Verteidigungsminister unter den Präsidenten Kennedy und Johnson, über seine Rolle bei den zahlreichen militärischen Operationen der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Als Planer war er an den Flächenbombardements von Japan beteiligt, die weit über hunderttausend Menschen das Leben kosteten und die er selbst inzwischen als "Kriegsverbrechen" bezeichnet. Bei der unzureichend eingeschätzten Kubakrise schlitterte die Welt nur denkbar knapp an einer atomaren Katastrophe vorbei, und das in seinem Rückblick ebenfalls problematisierte Engagement in Vietnam kostete über vier Millionen Menschen das Leben. – Ein anderes Kapitel amerikanischer Weltpolitik im Kalten Krieg ruft der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán mit
Salvador Allende in Erinnerung. Am 11. September 1973 wurde der vom Volk gewählte Präsident mit amerikanischer Unterstützung von Pinochet-Faschisten weggeputscht und in den Selbstmord getrieben. Statt einer scharfen Analyse der Zeitumstände verliert sich der Film aber in wehmütigen Erinnerungen an eine Utopie, deren abruptes Ende für viele Chilenen bis heute ein Trauma ist. Da etliche Dokumente unter der anschließenden Militärdiktatur vernichtet wurden, ist auch die filmische Rekonstruktion des Mythos Allende nur ansatzweise gelungen, zu viele Fragen über seine Person, den Bürgerkrieg in Chile und die Rolle der USA bleiben ungeklärt oder werden als bekannt vorausgesetzt.
In Gottes Namen (Foto: Filmfest München)
Lüge und Wahrheit
Beruhten einige Militäroperationen der Supermacht USA in vergangenen Jahrzehnten offenbar zum Teil auf Unwissen und groben Fehleinschätzungen, versucht Robert Greenwald in seiner brisanten Dokumentation Uncovered: The War on Iraq anhand zahlreicher Interviews mit CIA-Veteranen, Diplomaten und Waffeninspekteuren zu beweisen, dass Bush, Rumsfeld, Cheney und Rice beim Irakkrieg die Weltöffentlichkeit wider besseren Wissens belogen und getäuscht haben, um die Invasion zu rechtfertigen. Greenwald montiert öffentliche Äußerungen dieser Politiker mit Dokumenten und Aussagen von Fachleuten, die in ihrer Detailfülle und in ihrer Übereinstimmung eigentlich nur den einen Schluss der Wahrheitsverfälschung zulassen. – Einen anderen Mosaikstein zur Wahrheitsfindung über diesen Krieg liefert Jehane Noujaim in der Dokumentation Control Room . Diese verdeutlicht, dass während des Irakkriegs Informationen für die arabische und für die westliche Welt ganz unterschiedlich aufbereitet worden sind. Allerdings beschränkt sich der Film auf wenige anschauliche Beispiele und zu sehr auf Aussagen von Reportern und Militärs, statt systematisch die unterschiedliche Berichterstattung zu analysieren. – Dass selbst versierte Journalisten/innen in weniger problematischen Situationen wie einem Krieg nicht ohne Weiteres zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden können, zeigt Billy Rays Spielfilm Shattered Glass . Ende der 1990er Jahre veröffentlichten mehrere angesehene amerikanische Magazine detailliert recherchierte und mehrfach überprüfte Reportagen, die alle aus der Feder des jungen Stephen Glass stammten. Erst viel später stellte sich anhand einer besonders brisanten Story über jugendliche Hacker heraus, dass Glass viele Fakten gefälscht und die ganzen Geschichten frei erfunden hatte, um seine eigene Karriere voranzutreiben. Mit einer Rahmenhandlung aus der Perspektive von Glass und weiteren filmdramaturgischen Mitteln macht der Film seinem Publikum sinnlich nachvollziehbar begreiflich, warum selbst erfahrene Journalisten/innen diesem Fake-Künstler auf den Leim gehen konnten, der unter dem Deckmantel des investigativen Journalismus eine ganze Nation zum Narren hielt.
The Fifth Reaction (Foto: Filmfest München)
Terror damals und heute
Mit dem Terrorismus in seinen verschiedenen historischen und aktuellen Erscheinungsformen beschäftigen sich ebenfalls mehrere Filme: Good Morning, Night von Marco Bellocchio (siehe Bericht Venedig 2003), ein Kammerspiel aus Sicht der Entführer des designierten italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden in den früher 1970er Jahren, oder auch Das baskische Ballspiel: Haut gegen Stein von Julio Medem. Der baskische Nationalsport Pelota wird hier zur Metapher für das unnachgiebige Verhalten der Politiker im Konflikt mit der baskischen Untergrundorganisation ETA. Niemand unter den Verantwortlichen ist offenbar bereit, den Konflikt auf kommunikativer Ebene zu lösen, so wie man es beim IRA-Konflikt wenigstens versucht hat, so lautet die Hauptanklage dieses Films. Medem, selbst ein Baske, hat über 70 Personen aus allen politischen Lagern befragt, allerdings präsentiert er eindeutig zu viele unbekannte "talking heads" und zitiert sie gar nur mit einem einzigem Satz, so dass Außenstehende ihre Mühe haben, Informationen richtig einzuordnen. – Die kurz nach München in Monte Carlo preisgekrönte Spiegel-TV-Dokumentation In Gottes Namen von Dan Setton und Tor Ben-Mayor ist eine Koproduktion von USA, Deutschland, Schweiz und Israel. Sie geht den Wurzeln des religiösen Fundamentalismus und des Hasses gegen die "Ungläubigen" des Westens im Libanon, in Pakistan und anderen arabischen Ländern nach. Besonders bemerkenswert ist, dass der Film mit den gängigen Vorurteilen aufräumt, ausschließlich Jungen und Männer seien von dieser Ideologie beeinflusst und würden als Märtyrer sterben wollen, die Frauen hätten in diesen Gesellschaften ohnehin nicht viel zu sagen. Dagegen zeigt der Film ein ganz anderes Bild: Auch viele Mädchen und Frauen, teils indoktriniert in Koranschulen für die Armen, teils auch aus bürgerlichen Schichten, sind inzwischen offenbar in voller Überzeugung bereit, ihr Leben und das ihrer Kinder für den "heiligen Krieg" zu opfern.
Duck Season (Foto: Filmfest München)
Frauen im Islam
Zwei Spielfilme reflektieren die Stellung der Frau in islamischen Gesellschaften auf erfrischend neue Weise: In The Fifth Reaction von Tahmineh Milani wollen sich fünf Frauen von ihren Männern nicht länger unterdrücken lassen und haben Erfolg damit. Besonders die jüngste von ihnen, die von den anderen tatkräftige Unterstützung erhält, hat nach dem Unfalltod ihres Mannes unter der Willkür ihres reichen Schwiegervaters zu leiden, denn er möchte ihr den Sohn wegnehmen und sie verjagen. Was vor einigen Jahren noch als stilles, eindringliches Sozialdrama inszeniert worden wäre, ist hier als spannende Unterhaltung zum Nachdenken dargeboten, tragische Momente wechseln mit komischen und karikaturhaften ab, Flucht und Verfolgung der Frau sind in Parallelmontage als "Spiel mit ungewissem Ausgang" zu sehen, die Gegner längst ebenbürtig und der Schluss sehr optimistisch. – Nadir Moknèche zeigt in Viva Algeria , dass sich nach dem bürgerkriegsähnlichen, fundamentalistisch geprägten Terror des vergangenen Jahrzehnts langsam auch für die weibliche Bevölkerung in der arabischen Welt etwas ändert. Porträtiert werden drei Frauen im kulturellen Schmelztiegel Algier, eine ehemalige Tänzerin, ihre westlich orientierte, emanzipierte Tochter und deren Freundin, die als Prostituierte arbeitet, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie alle kämpfen auf ihre Weise für ihre Vorstellung von Freiheit und Unabhängigkeit, wobei die Prostituierte die schlechteste Karte gezogen hat, denn einer ihrer Kunden ist von der Geheimpolizei.
Kinder und Jugendliche sich selbst überlassen
Der mexikanische Filmemacher Fernando Eimbcke nähert sich in
Duck Season dem Lebensgefühl junger Mexikaner in der Stadt. Sein formal bestechender Schwarzweißfilm ist inszenatorisch ein kleines Meisterwerk. Mit ruhigen Einstellungen und extremen Kamerapositionen beobachtet Eimbcke einige Jugendliche in einem kleinen Appartement, den 14-jährigen Sohn der Wohnungseigentümerin, seinen Freund und ein zwei Jahre älteres Mädchen aus der Nachbarwohnung, bei ihren lakonisch geführten Gesprächen. Zu ihnen gesellt sich ein junger Pizzaausfahrer, den die Jungen zunächst nicht bezahlen wollen, und der nach einem absurd anmutenden Machtkampf mit den Jungen seinen ungeliebten Aushilfsjob kündigt. Langsam, aber unausweichlich versinkt die Wohnung im Chaos: Das Mädchen versucht sich in der Küche am Tortenbacken, weil sich niemand an ihren Geburtstag erinnert hat. Ein Gemälde, das Enten am See zeigt, inspiriert die Jungen gar zu Übungen mit dem Luftgewehr, was gleichzeitig dem Frust auf die in Scheidung lebenden Eltern ein Ventil gibt. – Ein thematisch ähnlich gelagerter Spielfilm, in dem die Mutter beziehungsweise die Eltern kaum in Erscheinung treten, kommt aus Japan.
Nobody Knows begleitet fast dokumentarisch und sehr authentisch das Alltagsleben von vier Geschwistern zwischen sechs und zwölf Jahren, die sich nach dem Verschwinden ihrer Mutter ohne Hilfe durchs Leben schlagen müssen. Dabei wirkt die Mutter keineswegs wie eine Rabenmutter. Sie hat die Wohnung nur bekommen, weil sie die drei Jüngeren den Vermietern gegenüber verheimlichte und im Koffer ins Haus schmuggelte. Doch eines Tages ist sie weg und der älteste Sohn übernimmt ihre Aufgaben, damit die Geschwister zusammenbleiben können und nicht in verschiedene Heime müssen. Die Verwahrlosung der Kinder setzt erst spät ein, der Zusammenhalt stärkt sie, ihre moralische Integrität bleibt bis zum Ende ungebrochen. So werden die Kinder zu kleinen Helden und die implizite Anklage gegen eine anonyme, egoistische und kinderfeindliche Gesellschaft umso deutlicher.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006