Kinostart: 26.01.2023 Verleih:Mindjazz Pictures Regie und Drehbuch: Tine Kugler, Günther Kurth Darsteller/innen: Pascal (Kalle) u.a. Kamera: Günther Kurth Laufzeit: 99 min, Deutsche Originalfassung Format: digital, Farbe Filmpreise: Kinofest Lünen 2022: Kinder-und Jugendfilmpreis "Rakete"; Filmkunstfest MV 2022: Lobende Erwähnung im Kinder- und Jugendfilmwettbewerb FSK: ab 12 J. Altersempfehlung: ab 15 J. Klassenstufen:ab 10. Klasse Themen:Erwachsenwerden, Strafvollzug, Familie, Drogen, Gewalt Unterrichtsfächer:Gemeinschaftskunde, Politik, Ethik/Religion, Deutsch
Pascal, genannt Kalle, lebt im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf in einer Plattenbausiedlung an der Allee der Kosmonauten. Er steht im Mittelpunkt der Langzeitbeobachtung der Münchener Dokumentarfilmer/-innen Tine Kugler und Günther Kurth, die ihn zehn Jahre lang beim Erwachsenwerden begleitet haben. Ihr Film zeigt Kalle als anfangs aufgeweckten und neugierigen Zehnjährigen, der allerdings viel auf sich gestellt ist: Die alleinerziehende Mutter des Jungen arbeitet als Lageristin und ist schon früh morgens aus dem Haus. Die Großeltern, nach der Wende durch Perspektivlosigkeit und Alkoholabhängigkeit belastet, sind zwar so gut es geht für ihn da – dennoch muss Kalle oft ohne die Erwachsenen in seinem Leben zurechtkommen. Ständige Geldknappheit erschwert das Familienleben zusätzlich. Mit den Jahren findet sich Kalle zusehends weniger zurecht. Zwar schließt er Freundschaften, erlebt die erste Liebe, die Hochzeit der Mutter, und Erwachsene wie der Sozialarbeiter Samuel bescheinigen ihm viel positives Potenzial. Doch parallel häufen sich Schwierigkeiten: Drogen, Diebstähle, Körperverletzung – Kalle gerät auf die schiefe Bahn. Seinen 18. Geburtstag verbringt er im Gefängnis.
In Kalle Kosmonaut bleiben Kugler und Kurth in ihrer Rolle als filmende Beobachter/-innen konsequent unsichtbar. Der Blick ihrer Kamera offenbart jedoch das enge Vertrauensverhältnis zu Kalle, der sich mit bemerkenswerter Offenheit äußert und die Gespräche als Reflektionsraum nutzt. Dass seine Erkenntnisse folgenlos bleiben, kommentieren die Filmemacher/-innen nicht. Stattdessen kontrastieren sie sein Selbstbild als cooler Rapper wiederholt mit Momenten der Stille, in denen ihm die Kamera sehr nahe kommt und seine Zweifel und Ängste spürbar macht. Sie werden im Film zudem durch weitgehend düster gehaltene Animationsfilmsequenzen des Künstlers Alireza Darvish bebildert, die auch die Momente visualisieren, in denen die Kamera nicht dabei sein konnte – etwa in der Gefängniszelle oder bei seiner Gewalttat an einer Haltestelle. Raue Gitarrenriffs akzentuieren die Zerrissenheit musikalisch. Neben Kalle kommt auch sein soziales Umfeld zu Wort: seine Mutter, die Großeltern, sein Bruder, die trotz seiner Straftaten zu ihm stehen, ihm aber letztlich keine Hilfestellung bieten und keinerlei Perspektiven aufzeigen. Auch ein Sozialarbeiter des Kinder-und Jugend-Hilfswerks Die Arche und Polizist/-innen aus dem Viertel, die ihn wegen diverser Delikte gut kennen, äußern sich vor der Kamera. Sie attestieren Kalle einen guten Kern, weisen zugleich aber auf seine Unfähigkeit hin, aus Fehlern zu lernen. Indem der Film sie dabei stets in ihrer Alltagsumgebung zeigt, fängt er beiläufig auch den von architektonischer Tristesse und Monotonie geprägten Schauplatz ein, auf dem sich Kalles Jugend abspielt.
Eine besondere Qualität von Kalle Kosmonaut ist, dass er trotz aller Probleme seiner Protagonist/-innen auch deren Stärken einfängt – ihre Solidarität und Zugewandtheit, vor allem aber ihre Widerstandskraft. Auch deshalb gelingt es der Regie, einen Eindruck von der Härte zu vermitteln, die das Heranwachsen und Leben in prekären Verhältnissen bedeutet. Da die Filmschaffenden auf ein einordnendes oder erklärendes Voice Over verzichten, nehmen sie bewusst Leerstellen in ihrer Erzählung in Kauf, wie etwa den genauen Hergang der von Kalle verübten Straftaten. Gleichzeitig ist das Publikum umsomehr aufgefordert, genau hinzusehen und zuzuhören und eigene Schlüsse zu ziehen. Warum es Kalle so schwer fällt, die richtigen Konsequenzen aus seinem Handeln zu ziehen, beantwortet der Film letztlich nicht. Seine Orientierungslosigkeit bringt der Protagonist indessen selbst auf den Punkt, als er sagt, er wisse einfach nicht, wo er das "gute Leben" finden kann.