Krieg als Show - Medien simulieren die Wirklichkeit
Was ist Wirklichkeit? Als große Erzählung ist sie von den französischen Philosophen der Postmoderne definiert worden. Das Weltbild des Mittelalters war ganz und gar von der Erzählung der Bibel gestaltet. Die visuellen Medien von Malerei oder Holzschnitt haben den szenischen Raum für diese Erzählung entworfen. Dem mittelalterlichen Menschen bedeuteten die literarischen und bildnerischen Ausgestaltungen von Jenseitswelten, die in seinen Lebensalltag hineinwirkten, durchaus Realität. Himmel, Hölle, Fegefeuer hatte niemand gesehen – doch sie existierten. Wer nach ihrer medialen Konstruktion oder Vermittlung fragte, wurde als Häretiker verfolgt. Das Phänomen der medialen Inszenierung von Realität ist also gar nicht so neu, wie man vermuten möchte. Und es hatte seit jeher mit Weltanschauung und Propaganda zu tun. Andererseits sind die Mittel der Medien im 20. Jahrhundert so weit perfektioniert, dass sie Realität täuschend echt simulieren können. Außerdem haben die audiovisuellen Medien derart erdrückende Allgegenwart erreicht, dass sie bei manchen Menschen authentische Lebenserfahrung ersetzen. Deshalb kommt es immer häufiger zu jenem verhängnisvollen Irrtum, das bloße Erscheinen in einem Medium als Ausweis der Realität zu nehmen. In der Filmsatire Wag the Dog wird das so ausgedrückt: "Es ist im Fernsehen, also findet es statt." Die Überprüfung eines Medien-Ereignisses auf seine Echtheit findet indessen nicht statt. Für den einzelnen ist sie ohnehin kaum zu leisten. Daher werden die Medien als perfekte Täuschungsinstrumente im Sinne politischer oder wirtschaftlicher Interessen gebraucht.
Das erste Täuschungsmanöver eines Massenmediums gelang am 30. Oktober 1938. Der amerikanische Rundfunksender CBS strahlte das Hörspiel "Krieg der Welten" nach dem Roman von H. G. Wells aus – Regie Orson Welles. Da die Story der Invasion vom Mars in die Rundfunkform der Reportage verpackt worden war, gerieten zahllose Hörer in Panik. Sie hielten die Fiktion für Wirklichkeit. Ähnliche Erfahrungen wurden später im Fernsehen gemacht. Als die ARD im Oktober 1970 "Das Millionenspiel" sendete, in dem Menschenjagd als Unterhaltungs-Show präsentiert wurde, riefen viele Zuschauer an und wollten sich als Jäger oder Opfer zur Verfügung stellen. Weil Medienkonsumenten als scheinbare "Augenzeugen" die große Bereitschaft mitbringen, Medieninhalte unbefragt für Tatsachen zu nehmen, sind Tatsächlichkeit und Simulation inzwischen eine kaum noch zu entwirrende Beziehung eingegangen. So schien die rumänische Revolution im Dezember 1989 nur zu gelingen, weil die Revolutionäre ihre Kommando-Zentrale in ein Fernsehstudio verwandelten und die Kameras als Waffen gegen die Kräfte der Diktatur einsetzten. Erst später stellte sich heraus, dass die Inthronisation des Revolutionshelden Iliescu als neuer Machthaber und die Exekution des Diktators Ceaucescu für diese Kameras inszeniert worden waren.
Weil der Vietnamkrieg nach Politikermeinung als "Krieg der Kameras" zur Niederlage Amerikas geführt hatte, wurde der Golfkonflikt 1991 als "sauberer Krieg" oder als "Computerspiel" inszeniert, in dem es scheinbar nur um Technologie und nicht um Menschenleben ging. Gleichzeitig sorgte die Kriegsberichterstattung im Fernsehen für hohe Einschaltquoten und bewies so ihren medialen Unterhaltungswert. Spätestens seit diesem Ereignis unterliegen reale Konflikte der Dramaturgie Hollywoods. Es gibt eindeutige Rollenverteilungen (so hatten im Jugoslawienkrieg fast ausschließlich "die Serben" die Rollen der Bösewichte zu spielen). Ein Ultimatum steigert die Spannung (und die Einschaltquote); ein Konflikt, eventuell sogar ein Krieg, mutiert zur Show. Es geht nicht mehr ausschließlich um die Durchsetzung politischer Interessen, sondern auch um Marktanteile. Die Wirklichkeit erscheint als Fernsehspiel, das Fernsehspiel als Wirklichkeit. Für Manipulation, Inszenierung, Simulation von Realität werden die Grenzen mit der Ausbreitung der virtuellen Computerwelten weiter fallen. Was ist Wirklichkeit? Womöglich eines Tages ein Programm, das von der Mehrheit der Medienrezipienten im selben Augenblick empfangen wird. Denn das, was im Fernsehen ist, findet statt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 12.12.2006