Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte IX: Völkerverständigung - ein Defizit der Filmgeschichte
Im Bergwerk sind Menschen in Not geraten. Andere Menschen wollen ihnen helfen. Sie wühlen sich durch einen Verbindungsstollen. Plötzlich werden sie durch einen Gitterzaun aufgehalten. Daran ein Schild: "Grenze 1919". Sie beseitigen das Gitter und können ihre Kameraden retten. Deutsche Bergleute haben französischen Bergleuten beigestanden. Während sie gemeinsam feiern, wird das Gitter wieder aufgerichtet. Der ganz normale Umgang von Menschen über Grenzen hinweg ist offensichtlich keine Selbstverständlichkeit – vor allem wenn diese Menschen erst vor kurzem als Soldaten aufeinander geschossen haben.
1931 hat Georg Wilhelm Pabst Kameradschaft gedreht. Die Szene mit der Grenze, die sich auch unterirdisch fortsetzt, steht im symbolischen Zentrum des Films. Pabst hat diese Sequenzen mitten im wachsenden Chauvinismus der beiden Staaten inszeniert und hat damit angeknüpft an die Schlussszene seines Films Westfront 1918, der ein Jahr zuvor entstanden war. Da ergreift ein verwundeter Franzose die Hand eines toten Deutschen und stammelt: "Wir sind keine Feinde, wir sind Kameraden." Es geht um Menschlichkeit über Schützengräben und Grenzen hinweg. Vor allem die politische Zensur in Deutschland betrachtete solche Botschaften jedoch als bedrohlich. Hier wurde Patriotismus zersetzt.
Vielleicht ist diese nationale Stimmung ein Grund, warum die Suche nach den großen völkerversöhnenden Werken in der Filmgeschichte relativ erfolglos ist. Das Kino als wichtiges sinnstiftendes Medium im 20. Jahrhundert hat stets an der stabilisierenden Mythologie der Nationen gearbeitet, da es, mit wenigen Ausnahmen, nur nationale Filmproduktion gab. Es lassen sich Abertausende von Filmen finden, die dem Publikum das nationale Korsett anlegten, Feindbilder schufen, kriegerische Handlungen motivierten oder nach Kriegen die nationalen Seelenwunden zu heilen versuchten. Nur eine Handvoll Filme hat sich dagegen für Völkerverständigung und die Versöhnung von Ethnien eingesetzt. Auch der beinahe verzweifelt humanitäre Appell Charlie Chaplins aus der Schlussansprache von Der große Diktator (1940) ist lediglich rhetorisch, ist nicht filmisch. Immerhin heißt es da: "Ich möchte niemanden beherrschen und niemanden bezwingen. Es ist mein Wunsch, einem jeden zu helfen – wenn es möglich ist – sei er Jude oder Nichtjude, Weißer oder Schwarzer."
Der erste Anlass, dass sich die Filmbranche dieser Thematik überhaupt bewusst wurde, war das Echo auf D.W. Griffith' Film über den amerikanischen Bürgerkrieg. Birth of a Nation (schon der Titel verweist auf einen nationalen Gründungsmythos) wurde 1915 zu Recht der Vorwurf des Rassismus gemacht. Schwarze treten in diesem Film nur in grotesker Verzeichnung auf. Griffith reagierte auf die Attacken, indem er ein Jahr später Intolerance drehte. Darin zeigt er, dass die Intoleranz seit jeher die menschliche Geschichte bestimmt. Er konstatiert diesen Umstand allerdings mehr, als dass er ihn kritisiert. Erst 1989 entstand mit Edward Zwicks Glory ein Film, der Schwarzen eine halbwegs autonome Rolle im amerikanischen Bürgerkrieg zubilligte.
Der Händedruck über ethnische oder politische Grenzen hinweg ist offenbar ein heikler Stoff fürs Filmgeschäft, auch und vor allem für die filmische Weltmacht Hollywood. Noch in Kevin Costners Film Der mit dem Wolf tanzt (1990), eindeutig auf die Versöhnung zwischen den aggressiven Weißen und den ihnen fast vollständig zum Opfer gefallenen "Native Americans" angelegt, findet die Liebesgeschichte unter Weißen statt und vermeidet geflissentlich jede Andeutung von "Rassenschande".
In der knappen Filmgeschichte der Völkerversöhnung steht wahrscheinlich Jean Renoirs Die große Illusion auf einem der ersten Plätze. 1937 handelte er von der schwierigen Normalisierung der Beziehungen von Menschen, die durch die politischen und militärischen Verhältnisse im Ersten Weltkrieg als Feinde abgestempelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die Versöhnungsthematik international eine noch kleinere Rolle. Entsprechende Filme waren ästhetisch hilflose Versuche wie Eduard von Borsodys Schwank Der Mayor und die Stiere (BRD 1955) über die Annäherung zwischen einem bayerischen Dorf und einem amerikanischen Besatzungsoffizier oder Victor Vicas' Symbolspiel Das zweite Leben über vertauschte nationale Identitäten, immerhin eine deutsch-französische Koproduktion von 1954. Filmisch anspruchsvoller dagegen die erst 1982 erschienenen, autobiografisch gefärbten Erinnerungen von Marianne Rosenbaum an die Nachkriegszeit in Peppermint Frieden. In der DDR wurde Heiner Carows Defa-Film Die Russen kommen (1968) als anspruchsvollster Anlauf zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Sowjets gar von der Zensur bis kurz vor der Wende in den Tresor verbannt.
Angesichts des aus nationalistischen und ethnischen Motiven geführten Krieges auf dem Balkan ist das Thema der Versöhnung wieder ins Zentrum aktueller filmischer Geschichten gerückt. Vielleicht ist die Szene, die Theo Angelopoulos in Der Blick des Odysseus für die Fragilität dieser Versöhnung gefunden hat, in ihrer Melancholie besonders überzeugend. Während des Bosnien-Krieges ist Nebel über die von Heckenschützen bedrohte Stadt Sarajewo gefallen. Da kommen die Menschen, gleichgültig ob Bosnier, Kroaten oder Serben aus ihren Häusern und spielen miteinander Shakespeares großes Versöhnungs-Drama "Romeo und Julia". Bis Schüsse erklingen, Schweigen entsteht und die Kamera minutenlang blicklos in den Nebel starrt. Das verweigerte Bild des Theo Angelopoulos wirft jeden Zuschauer auf die eigene Position in der neuen Verpflichtung zur Versöhnung der Völker zurück.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 11.12.2006