"Heiratest du mich, weil du mich liebst?", fragt Elaha ihren Verlobten Nasim neun Wochen vor ihrer Hochzeit. "Ich heirate dich", erwidert er, "weil du ein gutes, anständiges Mädchen bist." Anstand bedeutet in ihrer eng geknüpften deutsch-kurdischen Gemeinschaft, nicht aus der Reihe zu tanzen, den Ruf der Familie nicht zu gefährden – und für eine junge Frau wie Elaha auch, die eigene "Unschuld" nicht aufs Spiel zu setzen. Je näher die Hochzeit rückt, desto mehr wächst die Angst der 22-Jährigen: Was, wenn Nasim in der Hochzeitsnacht herausfindet, dass sie bereits Sex hatte? Die einzige Hoffnung scheint eine Operation zur Rekonstruktion ihres Hymens zu sein, doch die kann sie sich nicht leisten. Die teuren Blutkapseln aus der Apotheke funktionieren auch nicht, wie sie sollen. Und ihren besten Freundinnen kann sie sich nicht anvertrauen, obwohl Dilan immer einen feministischen Spruch auf den Lippen und Berivan ihre eigenen Geheimnisse hat. Auf der Suche nach einer Lösung für ihr Problem beginnt Elaha sich zu fragen, wie und nach wessen Regeln sie eigentlich leben möchte.
Von Anfang an spielt der Film mit Nähe und Distanz, Freiheit und Einengung. Elaha ist selten allein: In der Wohnung ihrer Familie haben die Türen keine Schlösser – ein starkes Sinnbild für ihren Mangel an Privatsphäre. Auch das enge 4:3-Bildformat macht Elahas eingeschränkten Handlungsspielraum spürbar. Farb- und Lichtgestaltung kehren ihre Gefühle nach außen: Die kühlen Blau- und Grüntöne des Szenenbilds werden dunkel und beklemmend, wenn Elaha Druck und Angst spürt; pastellfarben und leicht an Orten, an denen sie sich wohl fühlt. Gleichzeitig wahrt der Film eine gewisse Distanz zu seiner Protagonistin: Die Kamera filmt sie oft von hinten oder in Halbtotalen. Und auch ihr Geheimnis scheint sie am Anfang nicht nur vor ihrem Umfeld, sondern auch vor den Zuschauer/-innen zu verstecken. Umso stärker wirken die Momente, in denen Elaha die vierte Wand durchbricht und plötzlich den Blick der Zuschauer/-innen trifft – als wolle sie das Filmpublikum herausfordern, über sie und ihre Entscheidungen zu urteilen.
Dem Debütfilm der selbst aus einer kurdischen Familie stammenden armenisch-deutschen Regisseurin Milena Aboyan gelingt es, der Vielschichtigkeit seines Themas und seiner Hauptfigur gerecht zu werden. Elaha liebt ihre Familie, sie findet Halt in ihrer Gemeinschaft. Trotzdem stimmt sie zunehmend nicht mit deren strikten Regeln und der patriarchalen Doppelmoral überein. Für ihr Dilemma präsentiert der Film keine einfachen Antworten. Umso mehr bietet er etwa im Fach Ethik Anlass für eine differenzierte Auseinandersetzung über sexuelle Selbstbestimmung und die Auswirkungen männlich dominierter Strukturen und Traditionen, die es – auch das spricht der Film deutlich aus – überall auf der Welt gibt. Dazu gehört auch das soziale Konstrukt der "Jungfräulichkeit", die angeblich durch ein intaktes "Jungfernhäutchen" signalisiert wird, das bei der ersten Penetration reißt und blutet – diese Vorstellung hält sich hartnäckig. Durch Elahas Besuche in Praxen und Beratungsstellen wirkt der Film nebenbei aufklärend, ohne vordergründig didaktisch zu erscheinen. Auf der filmästhetischen Ebene können die Schüler/-innen im medienkundlichen Unterricht analysieren, wie durch die Farb- und Lichtgestaltung und die Bildkomposition Elahas Gefühle spürbar gemacht werden.
Arbeitsblatt zu Elaha
Fächer: Deutsch, Sozialkunde, Ethik, Philosophie, Geschichte, Religion, Kunst, ab 10. Klasse, ab 15 Jahren
a) Was bedeutet Selbstbestimmung für euch? Durch wen erfolgt eine Einschränkung? Nehmt auch Bezug auf konkrete Beispiele aus eurem Leben. Entwerft eine Mindmap, die ihr mit einer Partnerin/einem Partner vergleicht. Stellt eure Ergebnisse der Klasse vor.
b) Seht euch den Trailer des Films an, stellt im Plenum Vermutungen über die Filmhandlung an und überlegt, wie diese in Zusammenhang mit euren Überlegungen zur Selbstbestimmung stehen könnte.
c) Elaha, die Protagonistin des Films, stammt aus einer jesidischen Familie. Was wisst ihr über das Jesidentum? Erstellt in Partnerarbeit einen Steckbrief zum Jesidentum, in dem ihr die wichtigsten Informationen kurz und knapp zusammenfasst. Lest dazu folgende beide Texte: bpb.de bpb.de
Während der Filmsichtung:
d) Teilt euch einer der beiden Gruppen zu und achtet während der Filmsichtung auf Folgendes: Gruppe A: Welche Personen spielen in Elahas Leben eine Rolle und warum? Gruppe B: Von wem und in welchen Momenten wird Elahas Autonomie eingeschränkt und wie geht sie damit um? Alle: Achtet auf die Farbgestaltung und das Filmformat (Seitenverhältnis Höhe mal Breite).
Macht euch während und unmittelbar nach der Filmsichtung stichpunktartige Notizen.
Nach der Filmsichtung:
e) Gibt es Aspekte der Persönlichkeit oder Geschichte von Elaha, die euch besonders beeindruckt haben? Wenn ja, weshalb? Tauscht euch im Plenum aus. Vergleicht auch eure Ergebnisse aus Aufgabe a) mit möglichen Antworten der Figur Elaha.
f) Geht in Vierer-Gruppen (je zwei Schüler/-innen aus Gruppe A und B) zusammen und tauscht eure Ergebnisse aus Aufgabe d) miteinander aus. Fertigt ein Figurenschaubild an, in dessen Mitte die Protagonistin Elaha steht. Stellt euch die Schaubilder anschließend vor und wertet sie kriteriengeleitet aus.
i) Seht euch das Interview mit Regisseurin Milena Aboyan an und macht euch stichpunktartige Notizen zu folgender Frage: Wie wollte die Regisseurin die Protagonistin Elaha darstellen? Diskutiert auf Grundlage eurer Notizen und des bisher Erarbeiteten, ob ihr die Figurenzeichnung der Elaha im Film so gelungen ist, wie sie dies im Interview beschreibt. Bezieht euch dabei auch auf konkrete Szenen:
j) In einer Szene sieht sich die Schwester von Elaha ein Video auf ihrem Smartphone an und man kann den Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" hören. Wisst ihr, was es mit diesem Slogan auf sich hat? Recherchiert zu zweit und tauscht euch anschließend im Plenum aus. Folgende Websites können euch bei eurer Recherche behilflich sein: bpb.de (die Abschnitte: „Frauen, Leben, Freiheit…“ und „Proteste mit breiter sozialer Basis“) Konrad-Adenauer-Stiftung
k) Stellt euch vor, ihr seid mit der Fortsetzung des Films beauftragt. Erstellt in Einzel-oder Partnerarbeit eine Szene. Überlegt euch eine geeignete Situation und welche Figuren darin vorkommen. Gebt eurer Fortsetzung auch einen Titel.
l) Wertet eure Szenen wechselseitig und kriteriengeleitet aus. Zeichnet die drei Gelungensten aus. Sendet sie an die Regisseurin und erläutert in einem kurzen Anschreiben den Hintergrund des Entstehens im Unterricht.
Autor/in: Roberta Huldisch (Filmbesprechung) Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 21.11.2023