Der Wanderhirte Pascal führt seine junge Kollegin Carole in die Jahrtausende alte Tradition der Schäferei ein, die in Europa nur noch wenige beherrschen. Die beiden ziehen zusammen mit drei Eseln, vier Hunden und 800 Schafen für vier Monate durch die Westschweiz und legen rund 600 Kilometer zurück. Zu erleben ist eine beschwerliche Winterreise durch eine Natur, die sich in den letzten Jahren verändert hat: Idyllische Landschaften sind durchzogen von Schnellstraßen, Autobahnen und Neubausiedlungen. Genächtigt wird auch bei eisiger Kälte und Dauerregen unter freiem Himmel. Einige tierfeindliche Bauern lassen die Herde nicht über ihre Felder ziehen.
Authentisch und anrührend erzählt der Dokumentarfilm Winternomaden von einem schwierigen, aussterbenden Beruf. Hautnah begleitet die Kamera die Protagonisten/innen bei ihrer Arbeit und bei ihren privaten, teils philosophischen Gesprächen mit Freunden/innen und Passanten/innen. Visuell steht die Natur selbst im Fokus: Der Regisseur arbeitet mit vielen
Totalen von kontrastreichen, poetischen Landschafts-Panoramen und
langen Kamera-Einstellungen. Seine lyrischen Bilder korrespondieren mit originalen Geräuschen von knackenden Hölzern, knirschendem Schnee und Tierlauten; über solche Impressionen vermittelt sich der intime Kontakt zur Natur. Stimmungsvolle, leicht emotionalisierende
musikalische Klänge werden sehr sparsam eingesetzt.
Mit eindrucksvollen Bildern bietet der Film die Chance, junge Generationen für die Schönheit und Ursprünglichkeit einer Natur zu sensibilisieren, die viele nicht mehr kennen. Zu erörtern wären die Bedingungen und Infrastrukturen, die eine Existenz als Wanderhirten/innen in Europa ermöglichen sowie die Vor- und Nachteile, die dieser Beruf bietet. Dabei sollte auch der Aspekt einer artgerechten Tierhaltung zur Sprache kommen. Zur näheren Einschätzung des Nomadentums im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne empfiehlt sich zudem ein Vergleich mit anderen Kulturkreisen, in denen es noch stärker verbreitet ist, zum Beispiel die Mongolei. Einige bedrückende Szenen, in denen die Schafe zum Abtransport auf den Schlachthof verladen werden, werfen ethische Fragen auf: Wie lässt es sich vertreten, Tiere in zwei Klassen zu unterteilen? Während Hunde als kameradschaftliche Mitgeschöpfe des Menschen gelten, sind Schafe fleischliche Ware. Inwiefern lässt sich das Töten prächtiger, gesunder Tiere überhaupt rechtfertigen?
Autor/in: Kirsten Liese, 17.12.2012
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