Interview
"Netzwerkportale sind für Jugendliche eine Art interaktives Poesiealbum"
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dagmar Hoffmann über die Bedeutung sozialer Netzwerke für junge Menschen.
Dagmar Hoffmann ist Professorin für Medien und Kommunikation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen und seit 2007 stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Medien- und Jugendforschung, sie ist Autorin und Mitherausgeberin von Publikationen zur Sozialisationsrelevanz von Medien im jugendlichen Selbstfindungsprozess sowie zur Kommunikation und Medienbildung im Web 2.0.
Was fasziniert Jugendliche an sozialen Netzwerkportalen wie SchülerVZ, StudiVZ oder Facebook?
Jugendliche können sich auf solchen Portalen über ihre Alltagsrollen hinaus präsentieren. Soziale Netzwerkportale können als Erprobungsraum betrachtet werden, in dem man erfährt, wie man auf andere wirkt. Gerade in der Pubertät ist es besonders dringlich, sich mit der eigenen Identität auseinander zu setzen. Wer bin ich, wer möchte ich sein? Man sucht hingebungsvoll das Foto aus, das man einstellt, man demonstriert, was die Lieblingsserien sind, man zeigt, was auf der letzten Party los war, man pinnt dem anderen, dass man ihn vermisst hat, man flirtet. Netzwerkportale sind für Jugendliche eine Art interaktives Poesiealbum. Und in der Regel möchten sie nicht, dass die Erwachsenen sehen, was sie einstellen. Die Online-Netzwerke werden zumeist als exklusiver Jugendraum erlebt, man fühlt sich weitestgehend unter sich.
Studien belegen, dass Online-Communities primär von Jugendlichen genutzt werden, unter anderem weil sie mit dem Medium Internet groß geworden sind.
Es ist für Jugendliche selbstverständlicher, sich in solchen Communities aufzuhalten. Sie haben mehr Zeit als Erwachsene, sich auszuprobieren, und sind eher vertraut mit den vielfältigen Möglichkeiten, die sie dort haben. Jugendliche sind experimentierfreudig, möchten gerne Neues erfahren und erleben.
Nun stoßen Communities auch auf Kritik von Eltern und Erziehenden. Wie ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand über die entwicklungspsychologische Bedeutung für Jugendliche?
Viele Erwachsene empfinden die Beschäftigung mit dem Internet an sich als zu zeitintensiv. Sich in Online-Communities zu bewegen, erscheint ihnen oftmals als unnützes Handeln. Nun ja, früher hat man stundenlang telefoniert. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Zuwendung zu sozialen Netzwerkportalen nicht unbedingt die Entwicklung hemmen muss. Diese Zuwendung ist eine Form von Kommunikation und Interaktion, die sich gar nicht so sehr vom alltäglichen, sozial-kommunikativen Handeln in der Offline-Welt unterscheidet.
Inwiefern?
Im Prinzip testen Jugendliche auf Netzwerkportalen aus, was sie auch im Alltag ausprobieren – wie man einen Freundeskreis aufbaut, wie man sich in Freundeskreise integriert, wie man kommuniziert, wie man auf andere wirkt. All das sind soziale Handlungspraktiken. Für heutige Jugendliche gehört es zur Sozialisation und Entwicklung dazu, in irgendeiner Community zu sein. Fachkollegen haben das so ausgedrückt: Netzwerkseiten dienen dem Informationsmanagement, dem Selbstmanagement und dem Beziehungsmanagement: Was ist in der eigenen Peergroup und bei Gleichaltrigen allgemein angesagt? Wie präsentiere ich mich, was spiegeln mir andere zurück? Wie erlange ich soziale Anerkennung? Wie zeige ich anderen, dass ich sie mag?
Dennoch gibt es ja unbestreitbare Risiken in Bezug auf soziale Netzwerke und ethische Problematiken.
Ich habe den Eindruck, dass ein steigendes Bewusstsein für die Risiken existiert. Beispielsweise wissen die meisten Jugendlichen, dass ihr Profil von anderen eingesehen werden kann, und viele haben es mittlerweile auch gesperrt. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Jugendliche peer-to-peer lernen, sich also auf dem Schulhof darüber verständigen, was gut oder weniger vorteilhaft ist und dass ja auch Lehrer oder eben Arbeitgeber durchaus Profile einsehen. Womit sich Jugendliche meinem Eindruck nach zumeist nicht so gut auskennen, sind Bild- oder Urheberrechte. Bildmaterial wird wild kopiert und weiterverbreitet. Den meisten ist offenbar auch nicht klar, dass alles, was sie einstellen, selbst dann noch präsent sein kann, wenn sie es längst gelöscht haben. Wie und was in Communities kommuniziert wird, hängt auch mit der sozialen Herkunft der jungen User zusammen. Da gibt es durchaus risikobehaftete Entwicklungen, also Kommunikationsformen, die unsozial, ethisch bedenklich, ja verletzend sind. Aber: Fälle von Cybermobbing, Bashing und Stalking sind ja nicht das, was wir generell im Netz finden, zumindest nicht in der Breite, in der es manchmal medial diskutiert wird.
Wie problematisch ist Cybermobbing?
Mobbing geschieht jeden Tag: auf dem Schulhof, in der Klasse, überall. Diese problematischen Umgangsformen sind schon vorhanden, sie bilden sich im Netz nur noch ein weiteres Mal ab. Aber sie wurden nicht im Netz erfunden. Das wird manchmal verkannt. Ich denke, wir werden nie in einer Gesellschaft leben, in der es kein Mobbing oder keine Grenzverletzungen gibt. Grenzüberschreitungen erlauben uns, die Regeln des Miteinanders und der Grenzziehung stets aufs Neue auszuhandeln und uns darüber klar zu werden, wie wir uns verständigen und miteinander umgehen wollen.
Was können Lehrkräfte tun, um die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen?
Es gab in der Vergangenheit einige Aufklärungskampagnen, die sicherlich auch gefruchtet haben. Auch die öffentlichen Diskurse in den Medien waren wichtig, um das eigene Handeln in den Communities zu prüfen und zu reflektieren. Aber meinem Eindruck nach wurde in den Schulen das Thema Social-Network-Sites erst aufgegriffen, als die ersten Problemfälle auftauchten, als Newsgroups eingerichtet wurden, in denen Lehrende diffamiert wurden. Das finde ich ärgerlich, denn darüber muss man eigentlich vorher mit den Schülerinnen und Schülern reden: Was ist ethisch vertretbar? Was ist rechtlich in Ordnung? Zu wissen, was Jugendliche machen, warum diese Communities so eine Faszination ausüben, und sie dabei zu begleiten, ihnen Hilfestellung zu geben – all das gehört zu den Aufgaben von Schule. Dies kann nicht alleine den Eltern überlassen werden. Hier geschieht definitiv noch zu wenig und wird auch zu selten das Gespräch zwischen Lehrenden, Schülern und Eltern gesucht. Die Vermittlung von Internetkompetenz kann nur gelingen und erfolgreich sein, wenn sich alle Beteiligten über die Lernziele einig sind.
Welchen Rat würden Sie beunruhigten Eltern geben, wenn ihre Kinder ständig auf Netzwerkportalen unterwegs sind?
Zunächst ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu beobachten. Dabei sollten sich Eltern zunächst wertneutral verhalten, also nichts von vornherein verteufeln. Es ist auch wenig sinnvoll, Pubertierenden Zeitlimits zu setzen oder ihre Internetaktivitäten streng kontrollieren und reglementieren zu wollen. Man muss erkennen, dass sich die Sozialisationsbedingungen verändert haben. Sie sind mit früheren Generationen kaum vergleichbar. Früher traf man sich stundenlang an der Bushaltestelle oder an anderen mehr oder weniger öffentlichen Plätzen, heute trifft man sich im Netz. Klar, wenn es zu exzessiv wird, wenn es Verweigerungshaltungen gibt, das Familienleben leidet, dann müssen Regeln aufgestellt werden. Aber zunächst sind soziale Netzwerkseiten etwas, wodurch sich Jugendliche auch abgrenzen möchten. Und das ist wichtig.
Warum?
Kinder und Jugendliche stehen heute ständig unter sozialer Kontrolle, sind durch Mobiltelefone überall erreichbar. Aber sie brauchen auch eigene Sozialräume, um sich zu entwickeln und zu entfalten. Das ist eben nicht nur das eigene Kinderzimmer, sondern dafür kommen auch virtuelle Räume in Frage. Um sich zurechtzufinden und so zu agieren, dass es ihnen in ihrer Entwicklung nicht schadet, kann man ihnen anbieten, sie in ihrem Medienhandeln zu begleiten. Das bedeutet: Eltern sollten ihre Offenheit und Bereitschaft demonstrieren, ihre Kinder im Umgang mit den digitalen Medientechnologien gerne zu unterstützen. Wichtig ist zudem, problematische Erfahrungen thematisieren zu dürfen, sodass sie bewältigt werden können.
Handelt es sich Ihrer Meinung nach bei Online-Communities um ein vorübergehendes gesellschaftliches Phänomen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es beispielsweise Facebook in fünf Jahren noch geben wird. Es kann auch ein temporäres Phänomen sein und durch etwas anderes abgelöst werden. Viele merken, dass diese Form des Informations- und Selbstmanagements Zeit und Ressourcen kostet, prüfen kritisch den Nutzen. Noch sind Online-Communities sicherlich ein Hype, aber vielleicht möchte man sich irgendwann auch wieder auf etwas anderes, ja Neues konzentrieren. Man wird sehen.
Autor/in: Ula Brunner, Publizistin und Redakteurin bei kinofenster.de, 23.05.2011
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