Interview
"Der wichtigste Kinder- und Jugendmedienschutz ist immer noch die Haltung und Einstellung der Eltern"
Ein Interview mit Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Karla Misek-Schneider.
Die Fachärztin für Kinder- und Jugend-Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet als Professorin am Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE) der Fachhochschule Köln. Ihr Lehrgebiet umfasst Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie sowie Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter.
Das Interview führte Ula Brunner.
Jugendmedienschutz will Kinder und Jugendliche vor medialen Einflüssen schützen, die ihre Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen oder gefährden könnten. Was heißt das aus entwicklungspsychologischer Sicht?
Wie im übrigen Leben lernen Kinder auch hier vorwiegend durch positive und negative Erfahrungen: durch Lob und Strafe, durch das Nachahmen von Modellen, positiven wie negativen, und durch den Vorgang der so genannten klassischen Konditionierung – also der Verknüpfung emotionaler Reaktionen wie beispielsweise Angst mit Bildern, Musik, Stimmen oder Geräuschen. Insbesondere diese Verknüpfungen halten oft viele Jahre vor, verblassen nur langsam, selbst wenn den Kindern die Unwirklichkeit, die Fiktionalität des medialen Geschehens bewusst wird. Kinder nehmen Einzelheiten und Details wahr, die sie verstandesmäßig oft noch nicht einordnen können. Das kann zu starken Ängsten, Verunsicherungen und Überforderungen führen und weitere Entwicklungsschritte beeinflussen oder verhindern. Natürlich verfügen Kinder auch schon über bestimmte Distanzierungstechniken. Sie können, wenn das Mediengeschehen zu spannend oder bedrohlich erlebt wird, Schutz bei den Eltern suchen, sich die Ohren oder die Augen zuhalten oder – sofern sie das Grundschulalter erreicht haben und es das Fernsehen betrifft – das Gerät ausschalten. Zur Ausbildung dieser notwendigen Bewältigungs- und Distanzierungstechniken braucht es pädagogische Feinfühligkeit bei den Eltern und Schutzpersonen, aber auch Schutz vor und Reduzierung von medialen Reizexpositionen. Natürlich kann und sollte man Kinder nicht vor allen potenziellen negativen Erfahrungen schützen, sowohl nicht bei ihren Medienerfahrungen als auch nicht in ihrem weiteren Leben. Es gilt hier, die richtige Balance zu finden zwischen Halten und Loslassen.
Wie ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand in Bezug auf die Auswirkungen von Gewaltdarstellungen auf Kinder und Jugendliche?
Das ist bis heute ein wissenschaftliches Streitthema, das auch weiterhin zu Kontroversen führen wird. Dies hängt damit zusammen, dass sich beispielsweise die Wirkung von Gewaltdarstellungen nicht isoliert darstellen lässt, sondern vielen anderen Einflüssen unterliegt. Die biografische Situation des Kindes, seine körperliche und psychische Befindlichkeit, das allgemeine Alltagserleben oder die Möglichkeit, die Gewaltdarstellung mit Bezugspersonen zu bearbeiten, spielen beispielsweise eine große Rolle. So lässt sich zwar feststellen, dass Gewaltdarstellungen in den Medien Auswirkungen haben – innerhalb des komplexen Ursachenkonglomerats für gewalttätiges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen bilden sie jedoch nur einen weiteren Faktor. Es erscheint sinnvoller, Forschungsgelder in die Konzeptualisierung und Realisierung medienpädagogischer Interventionsstrategien zu stecken.
Kann sich ein Film trotz der Darstellung von Sexualität und Gewalt für Kinder eignen?
Es gibt einige Richtlinien: Die Gewaltdarstellung muss in ihrem Entstehungshergang nachvollziehbar sein, der Täter oder die Gewalttäterin des Filmes sollte negative Folgen oder Strafen erfahren, Sexualität sollte nicht mit Macht, Gewalt oder Geschlechtsstereotypen verknüpft werden – um einige Beispiele zu nennen. Weiterführender erscheint die Frage, was eigentlich "geeignet" meint beziehungsweise wer darüber bestimmt. Das bringt mich zu der Problematik, dass viele pädagogisch interessante, wertvolle, "geeignete" Filme manchmal von Kindern oder Jugendlichen nicht angenommen werden, für sie völlig uninteressant sind, also irgendwie doch nicht "geeignet", da sie die Zielgruppe nur in Teilen erreichen. Als Konsequenz daraus ziehe ich den Schluss, dass nicht Fachleute alleine über "geeignet" oder "ungeeignet" bestimmen, sondern vielleicht auch Kinder und Jugendliche mitwirken und mitbestimmen sollten. Forschung sollte hier unter Einbeziehung der Zielgruppe erfolgen, so genannte partizipatorische Forschungsansätze müssen sich entwickeln und vorangetrieben werden.
Entscheidungen bei Prüfungen für die gesetzlichen Altersfreigaben werden mehrheitlich auf der Basis von Diskussionen über Jugendschutzgesichtspunkte und in Hinblick auf die Verstehens- und Verarbeitungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen der frei zu gebenden Altersstufen gefällt. Was sind die Vor- und Nachteile dieser Praxis?
Der Nachteil ist die Unsicherheit der Kriterien, nach denen beurteilt wird, denn die entwicklungspsychologische Forschung hat hier deutlichen Nachholbedarf. Viele der Kriterien sind "weich" und deswegen biegsam. Hinzu kommt, dass Forschungsergebnisse, die vor 40 Jahren gewonnen wurden, nicht ohne weiteres heute noch Bestand haben, denn die kognitive und emotionale Reifung bei Kindern vollzieht sich heute anders als vor 40 Jahren. Ein Vorteil ist, dass überhaupt hingeschaut wird, dass Fachleute mit Nicht-Fachleuten diskutieren.
Stichwort Kinofilme: Die Altersstufen der Freiwilligen Selbstkontrolle sind ja recht weit gestaffelt. Wie sinnvoll sind diese festgelegten Altersstufen aus entwicklungspsychologischer Sicht?
Hierzu würde ich mir wünschen, dass die Politik oder auch die Film- und Fernsehwirtschaft Forschungsvorhaben oder pädagogische Projekte unterstützt, die diese Altersstufen in Bezug auf den Jugendmedienschutz genauer unter die Lupe nehmen. Aufgrund meines Kenntnisstandes und meiner Erfahrung würde ich sagen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Meines Erachtens wäre eine Grenzziehung bei 6, 9, 14, 16 und 18 Jahren aus entwicklungspsychologischer Sicht angemessener.
Wie könnten die FSK-Freigaben und auch pädagogische Empfehlungen noch besser an Eltern und Erziehende vor dem geplanten Kinobesuch herangetragen werden?
Die meisten Eltern verstehen diese Altersfreigaben falsch, sie halten sie für Empfehlungen! Dieses grundlegende Missverständnis sollte durch bessere Information und bessere Medienbildung von Eltern ausgeräumt werden. Außerdem erscheint es genauso wichtig, Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen deutlich zu machen, dass die FSK-Freigaben sie nicht von pädagogischen Pflichten und Aufgaben entbinden, nämlich sich dafür zu interessieren, welche Filme die Kinder schauen wollen, und sich beispielsweise im Internet über diesen Film und dessen pädagogische Einschätzung zu informieren. Denn der wichtigste Kinder- und Jugendmedienschutz ist immer noch eine Haltung und Einstellung der Eltern, die die drei Themen - Liebe für das Kind, aktives Interesse an dem, was es tut, und das eigene Vorbild in Bezug auf den Medienkonsum - als tragende Säulen aufweist.
Vor welche Herausforderungen sieht sich der Jugendmedienschutz – auch hinsichtlich der globalen Vertriebswege – heute gestellt?
Grundsätzlich ist der Jugendmedienschutz bei uns in Deutschland nicht schlecht aufgestellt, aber es gibt natürlich Nachbesserungsbedarf. In der FSK beispielsweise setzen Prüferinnen und Prüfer nach einfachem Konsens in Arbeitsgruppen nach dem Mehrheitsprinzip Altersfreigaben für Filme, DVDs, Videos und andere Trägermedien fest. Gegen diese Altersfreigaben kann sich grundsätzlich jeder Bürger beschweren. Ein solches Vorgehen ist durchaus positiv zu beurteilen; allerdings kann es zu Interessenkonflikten und Problemen der Unabhängigkeit kommen, denn die FSK ist schließlich eine Einrichtung der Filmwirtschaft. Ein weiteres Problem besteht in der unterschiedlichen Regelung des Jugendmedienschutzes innerhalb Europas und dem leichten Zugang zu Medieninhalten über das Internet. Gemäß dem Spruch "andere Länder, andere Sitten" werden beispielsweise Sexualität und Gewalt aus Sicht des Jugendschutzes unterschiedlich beurteilt. In England reagiert man eher restriktiv auf sexuelle Freizügigkeit, während in Holland und Skandinavien eher das Gegenteil der Fall ist. In der Konsequenz laufen viele Filme in den jeweiligen Ländern mit differenten Altersfreigaben. Um sich auf europäischer Ebene anzugleichen – insbesondere was die Erreichbarkeit von jugendgefährdeten Inhalten im Internet angeht –, gibt es seit einiger Zeit einen Arbeitskreis Europäischer Jugendmedienschutz, der das Ziel verfolgt, eine zentrale europäische Jugendschutzeinrichtung als Medienprüfstelle zu schaffen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber auch Sisyphos-Arbeit angesichts des weltumspannenden Internets und des immer leichter werdenden Zugangs. Hier brauchen wir neben politischen und juristischen Regelungen auch pädagogische und psychosoziale Konsequenzen, etwa in Form von Medienkompetenzvermittlung und Medienerziehung.
Autor/in: Ula Brunner, Publizistin und Redakteurin bei kinofenster.de, 14.03.2011
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