"Wo kann ich helfen? Wo drückt der Schuh?" Auf den ersten Blick hat sich wenig geändert im Leben des Provinzpolitikers Henryk Wichmann. Vor zehn Jahren begegnete man ihm erstmals als so aufopferungsvollem wie aussichtslosem Wahlkämpfer in Andreas Dresens Dokumentarfilm
Herr Wichmann von der CDU (Deutschland 2002). Noch immer fährt er kreuz und quer durch seinen Wahlkreis in der Uckermark/Oberhavel. Noch immer wirkt seine Bereitschaft zum Zuhören so ehrlich wie seine Verzweiflung über die eigene Ohnmacht echt – im "roten" Brandenburg hat konservative Politik einen schweren Stand. Doch Herr Wichmann steht nicht mehr in der Fußgängerzone, um auf die Menschen zu warten. Er kommt direkt zu ihnen, wird erwartet, redet mit. Statt Wahlkampfbroschüren und Werbekulis verteilt er Visitenkarten. Natürlich ist immer Wahlkampf, wer wüsste das besser als der Vollblutpolitiker Wichmann. Doch er ist kein einfacher Parteisoldat mehr: Herr Wichmann ist jetzt Mitglied des Landtags Brandenburg.
Unkommentierter Blick auf einen Politiker
Wie er als eigentlich abgeschlagener Nachzügler doch noch in die Oppositionsfraktion rutschte, wird in
Herr Wichmann aus der dritten Reihe nicht erläutert. Regisseur Andreas Dresen folgt dem Politiker mit der Kamera auf Schritt und Tritt, ohne zu
kommentieren oder Fragen zu stellen. Was das Ansteckmikrophon nicht registriert, bleibt außen vor. Die Arbeitsweise ähnelt der seiner Spielfilme, oft gewürdigt für ihren
dokumentarischen Blick – seine Stilmittel, die bewegliche
Handkamera und der Verzicht auf ein festgelegtes Skript, lassen den Akteuren/innen alle Freiräume. Insofern unterscheidet sich Wichmann kaum von den Schauspielensembles in Dresen-Filmen wie
Halbe Treppe (Deutschland 2001) oder
Halt auf freier Strecke (Deutschland 2011): Auch er gibt dem Publikum das Gefühl, am "wahren Leben" teilzuhaben; und auch er spielt dabei, für einen Politiker selbstverständlich, eine Rolle.
Authentisches Porträt mit komischen Momenten
Diese Ambivalenz von Authentizität und Politikerrolle macht den Film zum hochinteressanten politischen Lehrstück. Ob am Unternehmerstammtisch, beim Seniorenfest oder vor Schulklassen – der 34-Jährige scheint die Kamera ganz zu vergessen. Zugleich tritt er auf als öffentliche Person, der die Außenwirkung nicht entgleiten darf. Dass dies hin und wieder doch geschieht, ist der ureigenen Persönlichkeit zuzuschreiben: Wichmann ist kein Medienprofi, eben einer "aus der dritten Reihe". Wenn er wieder einmal auf "die Grünen" schimpft oder im Parlament herummeckert, sind die Grenzen zwischen politischer Sprechblase und echtem Frust zuweilen schwer auszumachen. Zwar sind diese tragikomischen Momente und Ausrutscher im Vergleich zum ersten Film seltener geworden. Doch trotz gewachsener Erfahrung wirkt der Protagonist noch immer menschlicher und authentischer, als man es von manchen seiner Kollegen/innen aus Fernsehnachrichten oder Talkshows gewohnt ist.
Vom Fahrradweg zum Schreiadler – die Politik der kleinen Dinge
Doch Wichmanns Schwerpunkte sind von der großen Bundespolitik weit entfernt: die mangelhafte Anbindung an die Deutsche Bahn, Fahrradwege, die Umgehungsstrasse, das Moorschutzprojekt und immer wieder der Schreiadler und die Bartmeise mit ihren gefährdeten Nistplätzen – diese Themen beschäftigen die Menschen im Wahlkreis 10, wo einst Angela Merkel aufwuchs. Die Hintergründe erschließen sich zuweilen schwer, doch Wichmanns Plädoyer für Innovation vor Naturschutz wird durch manch flapsigen Nebensatz deutlich. Wahlkreis 10 ist eine strukturschwache Region, der eine hohe Arbeitslosigkeit und Abwanderung noch immer zusetzen. So kommen in Wichmanns Bürgergesprächen ("Herr Wichmann hört zu") auch immer wieder Hartz IV und Bildungsthemen zur Sprache – doch gerade hier ist der Oppositionspolitiker völlig machtlos. Er kann lediglich zuhören, seine Unterstützung versprechen, und wird doch oft genug zwischen den Interessen seiner eigenen Wählerklientel zerrieben. Wo steht ein Konservativer, wenn Rentner/innen gegen Sozialhilfeempfänger/innen wettern und Unternehmer/innen mehr Arbeitsplätze einfordern? Manchmal scheint er es selbst nicht zu wissen.
Vom Land ins Parlament – ein Homo politicus im Fokus
Auf einmalige Weise zeigt
Herr Wichmann aus der dritten Reihe die Mühen kommunaler Basisarbeit ebenso wie den politischen Alltag im Parlament. Denn der Jungabgeordnete stapft nicht nur geduldig durch Wald und Flur. Im Potsdamer Landtag hat er freundliche Kollegen aus allen Parteien, ein eigenes Büro und einen gemütlichen Abgeordnetensessel, auf dem er nicht immer zuhören muss, um bei Abstimmungen reflexhaft die Hand zu heben. Man sieht ihn beim Überreichen einer Unterschriftenliste im Plenarsaal, beim Kollegenplausch in der Abgeordnetenkantine oder bei der Eröffnung des neuen Fraktionsbüros. Und auch hier erfüllt Dresens neutraler, gelegentlich aber auch erkennbarer Blick – die Kamera wählt
verschiedene Distanzen, geht extrem nah ans Objekt oder beobachtet aus der Ferne – seinen Zweck: Der Filmemacher muss nicht den "Menschen hinter dem Politiker" hervorkitzeln, wie es klassische Politikerporträts versuchen. Als frei agierender
Homo politicus ist Wichmann stets Mensch und Politiker zugleich. Auf künstliche Interviewsituationen, die den Porträtierten zur medialen Auseinandersetzung zwingen und das Ergebnis verfälschen, wird verzichtet.
Kein Grund zur Politikverdrossenheit
Der Gefahr einer allzu großen Identifikation mit der Person oder gar parteipolitischen Zielen, der Pepe Danquart bei seinem Ministerdenkmal
Joschka und Herr Fischer (Deutschland 2011) erlag, entgeht der Film durch die Wahl seines Protagonisten. Denn der sympathische Jungpolitiker glänzt zwar durch bewundernswertes Engagement, er verkörpert aber auch einiges, das nach landläufiger Meinung Politikverdrossenheit hervorruft: das Schimpfen auf den politischen Gegner, parteipolitisches Kalkül, eiserne Fraktionsdisziplin. Manchmal schimmert durch seine jungenhafte Unbekümmertheit auch Arroganz. Doch gerade in diesem Zwiespalt von hohen Idealen und politischer Realität, das ist die Botschaft beider Dresen-Filme, liegt auch der Reiz von Politik als Beruf. Henryk Wichmann ist kein Karrierist, aber die Karriere ist ihm wichtig – wie sollte er sonst je seine politischen Ziele durchsetzen? Nicht jedes winzige Thema interessiert ihn brennend, doch seine Offenheit gegenüber allen Belangen ist auch nicht nur gespielt. Als Politiker aus Berufung und Hans-Dampf-in-allen-Gassen ("Ich bin ja auch in der Kantinenkommission") hat der Brandenburger noch viel vor. Er wird seinen Weg gehen, vielleicht bis nach Berlin. Auch wenn er beim Absingen der Nationalhymne wieder einmal im Regen steht.
Autor/in: Philipp Bühler, Filmpublizist und Autor von Filmheften der bpb, 09.08.2012
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