Hintergrund
Modernisierung und Sozialer Wandel
Zwei gegenläufige Entwicklungen prägen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Weltordnung: die Globalisierung der Märkte - insbesondere im Bereich der Finanzen, Medien und Kommunikation - und die zunehmende politische Fragmentierung der Welt.
Staaten zerfallen, die Zahl nationalistischer und ethnischer Konflikte nimmt zu. Diese beiden Prozesse treffen in der Dritten Welt und in zahlreichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf Gesellschaften, die noch stark durch traditionelle Sozialstrukturen geprägt und weit davon entfernt sind, den Übergang in eine moderne Industriegesellschaft erfolgreich vollzogen zu haben.
Die Moderne – nur ein Denkmodell?
Der Begriff der Moderne ist ein Denkmodell, das sich aus der historischen Erfahrung mit der Industrialisierung Westeuropas und Nordamerikas herleitet. Es basiert auf der Annahme, dass mit der ökonomischen Entwicklung von einer agrarischen zur industriellen Wirtschaftsform ein zwangsläufiger Prozess in Gang gesetzt wird, der diese Entwicklung auch auf sozialer, weltanschaulicher und politischer Ebene nachvollzieht. Sie ist geprägt vom Übergang der dörflichen zur städtischen Lebensform und der Ablösung von religiösen durch säkulare Eliten über Alphabetisierung und Bildung. Hinzu kommen die Aufgliederung der Beschäftigungsstruktur und die Entstehung entsprechender Interessengruppen wie z. B. Gewerkschaften und die Abschaffung erbrechtlich allein auf den Mann fixierter Herrschaftsformen mit dem Ziel der politischen Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten über politische Organisationen, Parteien und andere Interessengruppen. Endpunkt dieser modellhaften Entwicklung ist die moderne Industriegesellschaft mit ausgeprägten sozialen Sicherungssystemen und einer demokratisch verfassten Staatsform.
Widerspruch von Modell und Realität
Der Blick auf die internationale Wirklichkeit zeigt, dass sich bei der Modernisierung der Entwicklungsländer historische Prozesse von Jahrhunderten keineswegs im Zeitraffer wiederholen. Vielmehr entstehen verschiedene Formen posttraditioneller Gesellschaften, die oft nur die ökonomischen Rahmenbedingungen übernehmen, nicht aber die sozialen und politischen Kriterien einer erfolgreichen Modernisierung erfüllen (können). Die soziologische Definition des Modernisierungsbegriffes begründet daher den Zwang zum sozialen Wandel in traditionellen Gesellschaften weniger mit der innewohnenden Gesetzmäßigkeit der Modernisierung, sondern vor allem mit dem Versagen der traditionellen Institutionen. So definiert Carl Deutsch Modernisierung als einen Prozess, "in dessen Verlauf wichtige alte, soziale, wirtschaftliche und psychologische Verpflichtungen und Bindungen unterhöhlt und gebrochen werden, worauf die Menschen bereit sind, neue Sozialisierungs- und Verhaltensmuster anzunehmen."
Von der Großfamilie zur Kernfamilie
Hauptkennzeichen der Modernisierung ist die zunehmende Urbanisierung. Die Übernahme der städtischen Lebensform als idealer Lebensstil wird über die Massenmedien verstärkt und geht weit über die eigentlich städtischen Lebensräume hinaus. Mit der Verstädterung des Lebensstils verlieren traditionelle Statuskriterien wie z. B. die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem sozialen Stand oder zu einem Dorf ihre Bedeutung. Die Großfamilie als typische Lebensform traditioneller Gesellschaften verliert ihre ökonomische Basis als Wirtschaftseinheit wie auch ihre Bildungs- und Versorgungsfunktion und reduziert sich tendenziell auf die Kernfamilie. In dem Maße, in dem der Familie ihre ökonomische Basis abhanden kommt, büßt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ihre Legitimation ein und wird zur Ideologie.
Zwangsmodernisierung in der ehemaligen UdSSR
In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wurde die Aushöhlung traditioneller sozialer Institutionen bereits vor Beginn ihrer Unabhängigkeit und damit dem Einsetzen des westlich geprägten Modernisierungsdrucks betrieben. Durch politischen Zwang - z. B. die Kollektivierung der Landwirtschaft nach industriellem Muster - verlor die Großfamilie ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit im sozialen Statussystem. Das im Zuge des ersten Modernisierungsprozesses geschaffene Gemeinschaftsgefühl und die sozialen Sicherungssysteme brachen mit dem Ende der Sowjetunion zusammen. Für die aus ihr hervorgehenden neuen Nationalstaaten, deren ethnische Identität und religiöse (z. B. islamische) Orientierung unter den Bedingungen der sowjetischen Nationalitätenpolitik unterdrückt worden waren, stellte das Ende des Ost-West-Konflikts und der Sowjetunion somit den Beginn einer zweiten Zwangsmodernisierung dar. In dem politischen Machtvakuum richteten sich vielfach autoritäre Systeme ein, die sich als schwache Staaten nach außen dem internationalen ökonomische Machtgefüge beugen, aber als Ordnungsmacht nach innen die Durchsetzung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen vorantreiben. Dabei wird der beschleunigte Übergang vom posttraditionellen zum postmodernen Gesellschaftstyp ermöglicht, ohne die politischen Versprechen der Moderne einlösen zu müssen.
Literaturhinweis:
Samuel N. Eisenstadt. Tradition, Wandel und Modernität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988
Autor/in: Margarete Häßel (punctum, Bonn), 01.07.2000