Das Interview führte Holger Twele.
Regisseur Miguel Alexandre (Mitte) mit Regula Grauwiller und Ken Duken
Nach Ihrem Fernsehfilm Der Pakt – Wenn Kinder töten beschäftigen Sie sich auch in Gran Paradiso mit jugendlichen Außenseitern. Was interessiert Sie an dieser Thematik besonders?
Es ist mir ganz wichtig, in meinen Filmen existentielle Themen zu behandeln, archaische menschliche Grundzustände. Das Interessanteste am Filmemachen ist für mich, solche Dinge auszuloten. Menschen, die ins Kino gehen, erwarten vielleicht nicht immer bewusst, aber zumindest insgeheim auch Antworten auf die Fragen des Lebens – neben der Unterhaltung, die natürlich an erster Stelle steht. Film ist in erster Linie Unterhaltung, Ablenkung vom Alltag. Aber wenn man in dieser Ablenkung auch noch Themen vorfindet, die einen ganz tief als Mensch berühren und wenn man nach dem Film vielleicht auch noch drei Köpfe größer rausgeht, dann ist es das, was für mich das Filmemachen ausmacht. Man darf auch nicht vergessen, dass man für einen solchen Film zwei Jahre seines Lebens aufwendet. Diese Lebenszeit sollte sinnvoll eingesetzt sein.
Resozialisierungsmaßnahmen in den verschiedenen Bereichen stehen zurzeit öffentlich auf dem Prüfstand. Welche Erfahrungen haben Sie da bei den Vorbereitungen zum Film gemacht?
Ich habe viel recherchiert, ich war im Jugendknast in Hamburg und habe dort mit jungen Knackis gesprochen und mich auch über wissenschaftliche Untersuchungen kundig gemacht. Am Ende war für mich klar: Der Idealfall wäre, dass man sich um jeden einzelnen Jugendlichen kümmern müsste, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen und in die Gesellschaft einzugliedern. Die Realität sieht aber so aus, dass nicht genügend Gelder vorhanden sind, nicht genügend Projekte und Programme für alle. Dadurch fallen viele Jugendliche durch die Maschen und bekommen nicht die Betreuung, die sie bekommen müssten, um wieder eine Lebensperspektive zu erhalten. Ich glaube aber sehr an solche Programme, über die wir im Film erzählen, solche Erlebnisreisen zum Beispiel. Ich glaube, dass man solche Jugendliche wieder für das Leben zurückgewinnen kann, indem man ihnen eine Perspektive eröffnet, ihnen wieder Selbstvertrauen gibt und Werte vermittelt. Verbrechen muss man schon sehr früh bekämpfen und an den Wurzeln anpacken. Größere Strafen lindern nur das Symptom, packen das Übel aber nicht an der Wurzel. In einem Film muss man dem Ideal möglichst nahe kommen, um eine Vision zu vermitteln, denn ohne Vision kann sich eine Gesellschaft nicht entwickeln.
Warum sind bei Ihnen die wirklich Bösen gerade die Normalbürger in Gestalt der beiden Skifahrer?
Ich hoffe, damit die Zuschauer zum Nachdenken anzuregen. Oft muss man hinter die Dinge blicken und was auf den ersten Blick als böse erscheint, ist es auf den zweiten Blick vielleicht gar nicht so oder hat bestimmte Gründe. Man muss hinter die Klischees blicken und sie brechen. Ein solches Klischee wäre, die Knackis sind die Bösen und nicht die Normalbürger. Es ist der Versuch, die Zuschauer für dieses Thema zu sensibilisieren und zu verdeutlichen, dass wir alle Menschen sind, die nicht nach ihrer Fassade beurteilt werden sollten.
Wie kamen Sie auf die Idee, das Schicksal eines Behinderten mit dem jugendlicher Straftäter zu verbinden?
Das ist wirklich sehr ungewöhnlich und es war sehr schwierig, den Film finanziert zu bekommen. Viele haben nicht daran geglaubt und nur die Gefahren darin gesehen, bei den programmatisch angelegten Figuren (Behinderte, Sozialarbeiter, Knackis, ein Türke, ein Neonazis usw.) in Klischees abzugleiten. Ich habe aber gerade die Chance in der Plastizität dieser Figuren gesehen, wenn man sie mit Leben füllt.
Gab es konkrete Vorbilder aus der Realität für die im Film gezeigten Ereignisse?
Ursprünglich kam die Idee zu diesem Stoff 1993 über einen Artikel im "Spiegel", den der Drehbuchautor Georg Heinzen gelesen hat. Darin ging es um ein Projekt in den französischen Alpen, wo ein Gefängnispfarrer Knackis dazu brachte, eine Gruppe von Rollstuhlfahrern auf einen Berg zu tragen. Unsere Geschichte hat also einen realen Hintergrund. Als ich dann ein Treatment erhielt, habe ich darin sofort das Potenzial für einen Kinofilm gesehen und gemeinsam mit dem Autor das Drehbuch entwickelt.
Warum ausgerechnet ein Berg als Gegenspieler und nicht ein anderes Abenteuer, eine andere physische Herausforderung?
Der Berg ist im Film nichts anderes als eine Metapher, ein Symbol für die Hauptfigur, die im Rollstuhl sitzt und dessen größter Feind die Schwerkraft ist. Die Hauptfigur schafft es, diesen Feind zu überwinden und das Unmögliche möglich zu machen. Für mich ist es die beste Metapher für jemanden, der über sich selbst hinauswächst. Wegen der Gravitation war es daher klar, dass es ein Berg sein musste, das ist eines der stärksten Bilder, die einem dazu einfallen können.
Der sog. "Bergfilm" hat eine lange Tradition im deutschsprachigen Raum von Luis Trenker bis Willy Bogner. Wollten Sie an diese Tradition anknüpfen?
Ich sehe mich nicht in dieser Tradition und wollte sie auch nicht fortführen. Für mich steht der Berg auch nicht im Mittelpunkt meines Films, selbst wenn er immer wieder ins Bild kommt, sondern die Figuren, ihre Emotionen und ihr innerer Kampf. Der äußere Kampf mit der Natur ist nur eine Projektion dieser inneren Zustände der Figuren. Im Mittelpunkt steht ein Mensch, der versucht, über sich selbst hinauszuwachsen und sein Schicksal zu akzeptieren, dass er nie wieder gehen kann. Die Natur erfüllt also keinen Selbstzweck, wie das bei einem Willy Bogner-Film ist.
Eine der Figuren ist ein relativ harmlos gezeichneter Neonazi und darauf reagiert man heute besonders sensibel ...
Ich wollte auch hier eine Vision vermitteln, einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zeigen. Deswegen habe ich die Figur als Mitläufer gezeigt, als verlorene Seele, die an die falschen Leute geraten ist. Die Mehrheit dieser Jugendlichen ist vollkommen perspektivlos, sieht keine Zukunft, langweilt sich, hat nichts zu arbeiten und schließt sich dann so einer Gruppierung an, nicht wegen der Ideologie, sondern um sich daran festzuhalten. Wir wollten die Figur so zeichnen, dass das Publikum es nicht aufgesetzt empfindet, wenn der Neonazi am Ende die behinderte Frau umarmt und das gelingt nur, wenn man ihn nicht als Ideologieträger, sondern nur als Mitläufer darstellt. Bei den bisherigen Vorführungen war das Publikum von Anfang an auf der Seite des Türken, man lacht über den Neonazi, er wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Bei der Szene auf dem Geröllfeld, als der Türke zum erschöpften Neonazi sagt: "Na Alter, ich dachte, du gehörst zur deutschen Herrenrasse", gab es meistens sogar Szenenapplaus. Ähnlich reagierte das Publikum am Schluss bei der Umarmungszene mit der Behinderten auf dem Gipfel. Die Leute nehmen das wirklich an und meine Hoffnung ist, wenn Jugendliche, die diesen Film sehen und solchen Gruppierungen angehören, diese Entwicklung ebenfalls nachvollziehen können und vielleicht ein bisschen ins Grübeln kommen.

Wie sehen Sie Ihren Film im Rahmen des gegenwärtigen deutschen Kinos?
Ich habe versucht, diese Geschichte sehr emotional zu erzählen. Das deutsche Kino macht große Fortschritte und ist dabei, das Publikum mehr und mehr zu erobern. Ich glaube aber, dass der Bereich des emotionalen Erzählkinos noch sehr stiefmütterlich behandelt wird und viel zu wenig vorhanden ist. Ich wollte aber emotionales Erzählkino mit Gesellschaftsbezug machen. Kürzlich hat uns einer unserer Berater, der in einer Klinik Querschnittgelähmte psychologisch betreut, gebeten, den Film für seine Patienten als Schulungsfilm einsetzen zu dürfen, weil er ihnen Hoffnung und Mut machen kann. Wie eingangs erwähnt, möchte ich nach einer langen Arbeit etwas Sinnvolles dabei herausbekommen und das Gefühl haben, der Welt etwas Konstruktives zurückzulassen. Als Filmemacher trägt man auch eine gesellschaftliche Verantwortung und man sollte sich ganz genau überlegen, was man tut und verbreitet.
Hoffen Sie, mit dem emotionalen Erzählkino das Publikum auch besser zu sensibilisieren oder gar zu beeinflussen?
Auf jeden Fall, über Emotionen erreicht man ein Publikum viel direkter als über intellektuelle Gedanken. Film ist seiner Tradition nach sowieso in erster Linie ein emotionales Medium. Alle Menschen kennen Gefühle, aber den Intellekt, bestimmte Gedankengänge nachzuvollziehen, hat nicht jeder Mensch. Deswegen erreiche ich über Gefühle viel mehr Menschen als über Gedanken. Natürlich muss ein guter Film auch einen Unterbau und eine Philosophie haben, aber in erster Linie muss er die Menschen berühren.