Berlinale 2001
Einen guten Abgang in seinem letzten Amtsjahr verschafft hat sich Festivalleiter Moritz de Hadeln mit einem bunt gemischten Wettbewerbsprogramm, das wie die anderen Sektionen diesmal ebenfalls zahlreiche sehenswerte Filme bot. Mit gesellschaftlichen Gegenwartsproblemen haben sich nur wenige von ihnen beschäftigt, wie etwa Steven Soderbergs
Traffic über die verschiedenen Facetten des Drogenhandels und -konsums in den USA (siehe Kinofenster 4-2001). Die Mehrzahl der Wettbewerbsfilme lieferte lebensechte oder cineastisch aufgepeppte Liebesgeschichten aus der ganzen Welt und Geschichte in Rückblicken, manchmal auch mit nostalgischem Beigeschmack, wie etwa Lasse Hallströms
Chocolat oder Tornatores
Der Zauber von Malèna zum Thema Toleranz und Überwindung von Vorurteilen (s. a. "Neu im Kino"). Quer über alle Sektionen hinweg, deren Unterscheidungskriterien ohnehin zusehends verschwimmen, sei wenigstens eine kleine Auswahl der besonders interessanten Filme kurz vorgestellt.
Das neue Land
Nadja Uhl (in "My sweet home")
Migrantenschicksale I
Mit großem Einfallsreichtum und viel Humor erzählt Geir Hansteen Jörgensen in seinem Spielfilmdebüt
Das neue Land die Geschichte zweier Asylanten in Schweden, die sich als politische Flüchtlinge aus dem Iran bzw. aus Afrika um eine Aufenthaltsgenehmigung bemüht hatten. Die ungleichen Freunde entkommen kurz vor ihrer wahrscheinlichen Abschiebung mit einem alten Auto, reisen auf der Suche nach einer neuen Heimat quer durch das Land und lernen in zahlreichen Episoden die unterschiedlichsten Menschen und sogar die große Liebe kennen. Manchmal läuft das schräge Road-Movie zwar Gefahr gar zu einer kompletten Zustandsbeschreibung der schwedischen Gesellschaft auszuufern. Seine Stärken liegen jedoch in der unkomplizierten und sympathischen Art der beiden einsamen Helden, die trotz aller Enttäuschungen ihren Glauben an das "Gute" im Menschen nicht verlieren. Unterhaltsames Kino der leisen Töne jenseits der sonst üblichen Sozialdramatik. – Wesentlich theatralischer und distanzierter näherte sich der eher mittelmäßige deutsch-griechische Wettbewerbsbeitrag
My Sweet Home von Filippos Tsitos einem ähnlichen Thema. Fremde in der Fremde, Gestrandete aus aller Herren Länder, begegnen sich beim Polterabend eines amerikanischen Freundes in einer Berliner Kneipe und ziehen selbstkritisch Bilanz über ihr Leben in Deutschland. Das ist nicht schlecht gespielt, wirkt aber reichlich konstruiert und leblos.
The Claim Little Senegal
Series7
Migrantenschicksale II
Bekanntlich gäbe es ohne Migranten aus Europa nicht das Amerika von heute bzw. die Weltmacht USA. An die raue Pionierzeit zu Zeiten des Goldrausches und des Eisenbahnbaus durch die Rocky Mountains erinnert der Brite Michael Winterbottom in
The Claim/Das Gold der Erde. Ein Abenteurer, der aus Geldgier Frau und Kind verkauft, bringt es später zu Reichtum und Ansehen und herrscht wie ein tyrannischer König über eine ganze Stadt, verliert aber wegen ökonomischer Interessen der Eisenbahngesellschaft wieder alles. Fernab gängiger Westernklischees arbeitet Winterbottom in seinem vor winterlicher Gebirgskulisse spielenden Film vor allem die Charaktereigenschaften seiner Figuren heraus und liefert dabei einen kritischen Blick auf amerikanische Gründermythen. – Gegen ihren Willen kamen seinerzeit die Schwarzen aus Afrika als Sklaven nach Amerika. Ein alter Senegalese begibt sich in Rachid Boucharebs einfühlsam inszeniertem Film
Little Senegal auf Spurensuche nach seinen Vorfahren und landet auf seiner langen Reise bei Verwandten in Harlem. Diese wollen mit der Heimat ihrer Vorväter nichts mehr zu tun haben, fühlen sich aber nach mehr als 200 Jahren in der Fremde in der neuen Umgebung noch lange nicht heimisch und behaust. Ein nachdenklich stimmender Film über die Höhen und Tiefen des Lebens und das Problem der Schwarzen in Amerika aus ungewöhnlicher Perspektive.
Schöne neue Medienwelten
Eine rabenschwarze Mediensatire auf gängige Reality-Live-Shows im Fernsehen liefert Daniel Minahan mit seinem in Berlin umjubelten Film Series 7. Das letzte Tabu ist gefallen: Kandidaten aus jeweils einer Stadt werden per Lotterie für die Serie "The Contender" ausgewählt und mit Handfeuerwaffen ausgestattet. Vor laufenden Kameras sollen sie ihre Gegenspieler töten. Wer als letzter überlebt, bekommt eine Geldprämie und darf in die nächste Runde. Es ist eine hochschwangere Frau, die in der nächsten Stadt u. a. auf einen an Krebs erkrankten Freund und auf eine Krankenschwester trifft ... Hervorragend gespielt, analysiert der dramaturgisch durchdachte Film treffend die kleinen und großen Perversionen des durchkommerzialisierten Medienbetriebs, geht in seinem voyeuristischen Zynismus aber nicht über das hinaus, was er zu kritisieren vorgibt. "Big Brother" für Leute, die es immer schon besser wussten.
Der König tanzt Eisenstein
Kultur, Politik und Macht
Ludwig XIV. ist in die Geschichte als absolutistischer "Sonnenkönig" und als Erbauer des Schlosses von Versailles eingegangen. Gérard Corbiau zeigt in
Der König tanzt weniger bekannte Aspekte seiner Biografie, die Genese eines Machtmenschen, seine Kindheit und seine problematische Beziehung zur Mutter, seine Vorliebe für die musischen Künste und deren spätere Funktionalisierung für die eigenen Zwecke des Machterhalts. Im Mittelpunkt des Films steht seine langjährige Freundschaft mit dem italienischen Tänzer und Komponisten Lully, der sein Leben in den Dienst des Königs stellt, ihm schließlich auch körperlich zugetan ist, später aber verstoßen wird. Kein üblicher Kostümfilm, eher schon ein auch choreografisch fesselnder Musikfilm über private Obsessionen, gesellschaftliche Machtstrukturen, die Rolle der Kunst in der Politik und die Stellung des Künstlers (z. B. auch Molières) im Wechselspiel der Macht. Eine Geschichtslektion ohne Staub und Pathos. – Der berühmte russische Filmregisseur Sergej Eisenstein ist vielen nur als erfolgreicher Künstler bekannt, dessen Werke bis heute die Hitlisten der unsterblichen Filmklassiker anführen. Der aufwändig inszenierte Spielfilm
Eisenstein von Renny Bartlett entwirft das differenzierte Bild des exzentrischen Künstlers voller menschlicher Schwächen, der sich nach Freiheit sehnte und sich oft nur mit jüdischem Humor den stalinistischen Willkürakten widersetzen konnte, die ihn schließlich in den Tod trieben.
The Optimists
Tremblin
Holocaust – zweimal anders
Eigentlich ist es schon erschreckend, wie langsam sich geschichtliches Bewusstsein ausdifferenziert: Zunächst zeigten Filme über viele Jahre hinweg den Holocaust ausschließlich als unabänderliche Opfergeschichte von großer Tragik und unermesslichem Leid. Dann entdeckte man plötzlich, dass viele Juden überall auch entschiedenen Widerstand gegen ihr Schicksal geleistet haben. Schließlich rückt nach über 50 Jahren erstmals die besondere Geschichte der ungarischen Juden ins filmische Blickfeld, die erst zu einer Zeit deportiert wurden, als der Krieg eigentlich schon verloren war. Und nun zeigen Jacky und Lisa Comforty in ihrem Dokumentarfilm The Optimists, dass trotz massiver antisemitischer Tendenzen in Bulgarien alle 50.000 Juden überlebt haben, weil es einige beherzte Politiker und viele Landsleute gab, die ihre Nachbarn und Freunde nicht verlieren wollten und sich offen gegen die Pläne der Nazis wendeten. Die Frage, warum in Bulgarien gelang, was in anderen Ländern nicht ging, beantwortet der Film nur ansatzweise; sie stellt sich neu für das heutige Publikum. – Die Romanverfilmung Der Himmel fällt von Andrea und Antonio Frazzi ist nach einer authentischen Begebenheit erzählt und kippt vom Optimismus in blankes, lähmendes Entsetzen um. Im Sommer 1944 werden zwei katholische deutsche Mädchen nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrem jüdischen Onkel in die Toskana gebracht, der bei den Bewohnern des Dorfes großes Ansehen genießt. Die ländliche Familienidylle wird jäh zerstört, als deutsche Soldaten auf dem Rückzug vor den Alliierten das Anwesen der Familie besetzen und einer der Anführer "schnell noch" alle Juden liquidieren möchte.
Fundamentale Widersprüche
Gläubige chassidische Juden, die homosexuell sind, geraten in ein schier unlösbares Dilemma, denn nach fundamentalistischer Auslegung der Thora begehen sie eine Todsünde. Ihnen bleibt ein heimliches Doppelleben oder die offene Abkehr vom Judentum. Da dieser Konflikt auf der reinen Ebene der Glaubensregeln nicht mehr lösbar ist, haben einige von ihnen auch Selbstmord begangen. In seinem fesselnden und mutigen Dokumentarfilm Trembling before G-D zeigt Sandi Simcha DuBowski andere Alternativen auf und setzt sich kritisch mit jeder Form von Fundamentalismus unabhängig von sexueller und religiöser Orientierung auseinander. Selbst göttliche Gesetze werden immer von Menschen interpretiert. Gleichzeitig entwirft der Film das Bild eines kommunizierenden und nicht nur strafenden Gottes.
Familiengeheimnisse Ali Zaoua
Familien und Ersatzfamilien
Solide Unterhaltung bietet
Familiengeheimnisse von Kjell-Åke Andersson, der 1978 in einer schwedischen Kleinstadt spielt. Nach außen hin versucht eine Familie mit drei heranwachsenden Kindern die Fassade bürgerlichen Glücks aufrecht zu erhalten¸ doch sie steht kurz vor dem Zusammenbruch. Diese Geschichte ist nicht gerade neu, aber flott und glaubwürdig erzählt. Da die weniger beobachtende als teilnehmende Kamera jeweils die Perspektive der einzelnen Personen mit ihren Krisen einnimmt und nicht Partei ergreift, werden auch die gemachten Fehler im Zusammenleben deutlich und ein Neuanfang unter geänderten Vorzeichen möglich. – Ohne den Schutz ihrer Familien kämpfen sich in
Ali Zaoua von Nabil Ayouch marokkanische Straßenkinder durchs Leben. Die eigene Gang ist ihnen wie eine Ersatzfamilie. Gewalt, Betteln, Prostitution und Gleichgültigkeit gehören zu ihrem Alltag. Als einer der Jungen bei einer Auseinandersetzung mit einem Stein erschlagen wird, besinnen sich die anderen auf ihre Freundschaft und wollen dem Toten wenigstens eine ehrenvolle Beerdigung zukommen lassen. Gedreht mit wirklichen Straßenkindern wirft der Film einen authentischen, ungeschminkten und faszinierenden Blick auf ihre Situation und zeigt den täglichen Überlebenskampf dieser Kinder.
Kinder, Kosovo 2000 Der Traum ist aus
Albträume und zerplatzte Träume
Kinder sind die Hauptleidtragenden im Balkankrieg und im Kosovo, egal ob sie Kosovo-Albaner, Serben oder Roma sind. Sie haben ihr Zuhause und oft auch ihre Eltern verloren. Wie sie mit diesen Schrecknissen umgeben, aber auch wie sie zu propagandistischen Zwecken missbraucht werden, zeigt der ungarische Filmemacher Ferenc Moldoványi in
Kinder, Kosovo 2000. In seinem formal sehr eigenwilligen Film sind Szenen, die Kindern mit einfacher Kamera selbst gedreht haben, gegengeschnitten mit langen erbarmungslosen Einstellungen, in denen sie von ihren Traumata berichten und es gibt auch keinen Schnitt, wenn sie in Weinkrämpfe ausbrechen. In Berlin wurde der Film sehr ambivalent aufgenommen, da viele befürchteten, er würde die Kinder nur voyeuristisch ausbeuten und sie danach in ihrem Elend alleine lassen. Dagegen beteuerte der Regisseur, dass die Kinder von sich aus vor der Kamera aussagen wollten, eine psychologische Betreuung an Ort und Stelle gewährleistet war und sich ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen entwickelt hatte. – Weit weniger dramatisch, aber ebenfalls sehr aufschlussreich geht es in
Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben zu. Christoph Schuch zeichnet in seinem spannenden Dokumentarfilm auch die Geschichte der linken Rockband "Ton, Steine, Scherben" nach, die den politischen Jugendprotest der 70er und 80er Jahre und deren Träume symbolisierte und den Soundtrack zur Studenten-, Hausbesetzer- und Umweltschutzbewegung lieferte. Vor allem aber geht es ihm um die Frage, für oder gegen was die einschlägige Musikszene heute singt und was aus den Ideen und Träumen von damals geworden ist. Ein musikalischer Geschichtsunterricht im Schnellkurs mit Gastkommentar zur politischen Gegenwartskultur.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006