Hintergrund
Das Leben, ein Schein - Vielfalt und Gefahren virtueller Welten
"Einst träumte Chuang-Chou, er sei ein Schmetterling. Er wusste nicht, dass er Chuang-Chou war. Plötzlich wachte er erschreckt auf und da war er wieder Chuang-Chou. Aber nun wusste er nicht, ob er Chuang-Chou war, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder ob er ein Schmetterling sei, der träumte, er wäre Chuang-Chou."
Szene aus "Matrix"
Sind wir in der Matrix?
Die alte Geschichte aus dem chinesischen "Buch vom südlichen Blütenland" stellt eine noch viel ältere Frage: Ist das Leben ein Traum? Erzeugt der Traum das Leben? Die Illusion von Leben? Was ist Wirklichkeit?, lautet die übergeordnete Frage. Oder in unserer modernen und modischen Terminologie: Kann man virtuelle Welten von realen Welten unterscheiden? Der Filmfan, der das Kultwerk von Andy und Larry Wachowski gesehen hat, könnte sich noch anders ausdrücken: Sind wir in der Matrix?
Wo bleibt die "Echtheit"?
Es sieht so aus, als sei das philosophische Gedankenspiel, das Sokrates vor 2500 Jahren mit dem Höhlengleichnis erstmals auf den Punkt brachte, derzeit so brisant wie noch nie. Er hat gesagt, das, was wir als Realität wahrnehmen, sind eigentlich nur die Schatten einer übergeordneten Welt von Ideen. Gegenwärtig sieht es so aus, als sei jede erfahrene Wirklichkeit bedroht von zahllosen inszenierten und gar nicht mehr fassbaren Realitäten – sei es in den traditionellen audiovisuellen Medien wie Fernsehen und Film, sei es in der neuen, rasant sich ausbreitenden Multimedia-Welt aus dem Computer. Wir sprechen von "virtuellen Welten", wenn wir die Scheinrealitäten von Computerspielen oder Kommunikations-Schnittstellen im Internet meinen. Ridley Scotts Film
Blade Runner hat außerdem schon vor 20 Jahren ein anderes Problem fragwürdig werdender "Echtheit" angesprochen: die Authentizität des Menschen als biologisches Wesen. Die Gentechnologie könnte sie eines Tages außer Kraft setzen.
Alles ist Illusion
An solche scheinbaren Verwerfungen knüpft die Diskussion der Intellektuellen gern an. Über die philosophische Frage nach der Wirklichkeit lässt sich trefflich streiten. Die Religionen aller Kulturen haben seit jeher behauptet, dass es eine metaphysische Realität außerhalb der mit menschlichen Sinnen wahrnehmbaren Natur gibt. Buddha, ungefähr ein Zeitgenosse von Sokrates, hat sogar die Existenz selbst als Illusion bezeichnet und damit viel von der augenblicklichen Diskussion vorweggenommen.
Szene aus "Matrix"
Die Virtualität der Steinzeit
Auch die Konstruktion von virtuellen Welten ist kein brandneues Phänomen. Sie begann wohl, als die Künstler der Steinzeit die Tierwelt von draußen an die Wände ihrer Höhlen holten. Jeder literarische Text erzeugt eine Scheinrealität, in der leidenschaftliche Leser genauso versinken können wie die Internet-Nutzer im Cyberspace. Und die Kulturpessimisten warnten einst vor dem Realitätsverlust durch Lektüre mit ähnlichen Argumenten, mit denen man jetzt die Online-Abhängigkeit von Computer-Freaks bedenkt. Film und Fernsehen mit ihren audiovisuellen Reizen haben zuletzt unwirkliche Räume gebaut, in denen sich die Zuschauer manchmal besser zu Hause fühlen als in der eigenen Haut. Man nennt sie Traumfabriken, weil sie genau an der Schnittstelle des philosophischen Diskurses arbeiten. Das Leben wird längst schon industriell vorgeträumt.
Die Wirklichkeit als Fälschung
Der Computer ist zunächst einmal nichts anderes als eine neue Kulturtechnik zur Erzeugung von Virtualität, d. h. von einer fiktiven Ausweitung der Realitätserfahrung. Diese Fiktion allerdings wird immer perfekter, immer undurchschaubarer und ist immer weniger in ihrer Scheinhaftigkeit zu erkennen. Hier liegen die tatsächlich diskussionswürdigen Aspekte der neuen Kulturtechnik. Denn durch diese Qualität lässt sich die Wirklichkeit nunmehr bald unmerklich verändern und manipulieren. Mit Computertechnik gefälschte Filme, Fotos und andere Dokumente können gezielte Fehlinformationen über Fakten geben, ohne dass die Manipulation überhaupt noch kenntlich zu machen wäre. So sollten Dokumente im Internet mit größter Skepsis betrachtet werden. Während also Philosophen und Kulturtheoretiker durch die neue Technik zu uralten Welterklärungen verführt werden, verändert die Technik selbst (noch nicht ohne Hilfe des Menschen) die Wirklichkeit – in ganz anderem Sinne, als Karl Marx das einmal meinte.
Opfer im Cyberspace
Trotzdem ist die Mitarbeit des Mediennutzers an der Erzeugung der Virtualität tendenziell immer weniger gefordert. Der Leser war – zwar angeregt vom Text – an der Ausgestaltung der Fantasiewelten geistig aktiv beteiligt. Der Reisende im Cyberspace, dem die künstlichen Welten in ihrer hohen Perfektion gleichsam in die Sinne gedrückt werden, ist ihnen dagegen passiv ausgeliefert. Das heißt, er erleidet sie, wird zu ihrem Opfer. Da das aber im schönen Schein der Virtualität geschieht, nimmt er seine Opferstellung gar nicht wahr.
Computer als Gesellschaftswesen?
Das Leben als Traum wurde bisher durch widerständige Realitäten genauso eingeschränkt wie durch gesellschaftliche Vereinbarungen. Man musste sich in jenem gemeinsamen Raum miteinander arrangieren, den man als Wirklichkeit definierte. Zu den Möglichkeiten des Computers gehört die Aufsplitterung dieser vereinbarten Wirklichkeit in die vielen, womöglich eines Tages unvereinbaren. Ideologisch wird diese Entwicklung als die Entgrenzung der Freiheiten des Individuums gepriesen. Doch der Mensch kann nur als Gesellschaftswesen existieren, nicht in der Interaktivität mit einem Computer, sondern in der Interaktion mit den anderen. Man wird sehen, ob wir auch den Computer zu einem Gesellschaftswesen erziehen können.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006