Hintergrund
Jugendkulturen im Wandel: Vom Besetzer zum Besitzer
Die Haustür hat ein Codeschloss. Im Treppenhaus sieht es ordentlich aus. Die Wände sind gestrichen, vor den Türen liegen Fußabtreter. Innen stehen die meisten Wohnungstüren offen, aber nach außen schottet man sich ab. Die Kreuzberger WG, die das Haus vor über 20 Jahren besetzt hat, lebt noch immer in ihrem "Wohnprojekt". Die Bewohner sind "in die Jahre" gekommen, die ersten Kinder bereits volljährig. Noch immer gibt es das Plenum, das zustimmen muss, wenn jemand einzieht. Noch immer trifft man sich in der Gemeinschaftsetage ab und zu zum Essen. Ob die Kinder das Haus von ihren Hausbesetzereltern einfach übernehmen?
Jugendkulturen ...
Die Hausbesetzerszene gilt als die vorerst letzte große Protestbewegung in der Jugendkultur. "Wir waren für die Stadt so wichtig wie die 68er", sagt eine ehemalige Berliner Aktivistin heute. Die Szene machte noch einmal in der Wendezeit von sich reden, als die Polizei Ende 1990 die besetzten Häuser in der Mainzer Straße im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain gewaltsam räumte. In Leipzig-Connewitz hielt sich bis 1995 eine alternative Szene. Dann wurde auch sie von der Stadt mit Verträgen versehen, die sie von Besetzern zu Besitzern oder Mietern machte.
... im Wandel der Jahrzehnte
Der Sozialforscher Dieter Rink (Hochschule Mittweida) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Jugendkulturen in den vergangenen 30 Jahren offenbar immer mit den Jahrzehnten wechselten: Ende der Sechziger Hippies und rebellische Studenten, zehn Jahre später Punks und Hausbesetzer. An der Wende von den 80er zu den 90er Jahren entstand – erstmals gesamtdeutsch - die Techno-Szene. Zeichneten sich die Vorgänger der Techno-Freaks noch durch einen politischen Anspruch und eine harte Artikulation des Generationenkonflikts aus (Eltern waren "Spießer"), so zeigt sich am Schicksal der Love Parade, der Großveranstaltung der Techno-Szene, wie schnell diese Strömung in der Spaßgesellschaft aufging. So wurde der Berliner Massenveranstaltung ihr Status als politische Demonstration abgesprochen.
Jugend und Politik
Ist die Jugend immer unpolitischer geworden, seit die Hausbesetzer sich gegen das Spekulantensystem auflehnten und ihren Protest gegen die verfehlte Wohnungsbaupolitik formulierten? Jugendforscher wie Artur Fischer (Shell-Jugendstudie) verneinen das: "Nicht die Jugend ist politikfeindlich geworden, sondern die Politik jugendfeindlich. Jugend hat einen ganz anderen Begriff von Politik entwickelt als er z. B. im Bundestag gebräuchlich" ist. Gegen Castor-Transporte oder gegen Tierexperimente zu sein – das sei für sie nicht "politisch", sondern normal.
Fehlende Zukunftsvisionen
Tatsache ist, dass auch die Jugend an so etwas wie eine gemeinsame Zukunft der Gesellschaft nicht mehr zu denken vermag. Die Hausbesetzer träumten von einer neuen, einer anderen Gesellschaft. Luca ("Häuserkämpfe", Transit 1981): "Es ging uns nicht um Abriss oder Luxussanierung, sondern auch um die Lebensformen, die wir hier aufbauen. Mit unseren Treffen im Haus, Blockrat und Besetzerrat bilden sich Ansätze von Autonomie, in die wir allmählich erst hineinwachsen, Strukturen, von denen wir anfangs nur geträumt haben, sind stückweit verwirklicht." So etwas ist heute passé. Jugendkulturen wurden in den 80er und 90er Jahren zu einem Teil der Erwachsenengesellschaft, die sich immer mehr individualisierte und in unterschiedliche Milieus aufspaltete. Die Abgrenzungen fielen weg. Die Jugendphase dehnte sich weiter aus. Dieter Rink: "Früher hatten Jugendkulturen eine relativ begrenzte Dauer, ihre Entwicklung stellte einen kurzen Zyklus dar, der in etwa auch mit der Zeit, die Jugendliche darin verbrachten, korrespondierte. Heute hat man es im Prinzip mit dauerhaften Jugendkulturen zu tun, die ihren subkulturellen Impetus verloren haben. Sie lösen einander auch nicht mehr als jeweils dominante ab, sondern existieren nebeneinander und beeinflussen sich mehr oder weniger bzw. reagieren aufeinander."
Neue "Hausbesetzer"
Sozialforscher Rink hat in dem Zyklus des Neuen, Ungewohnten eine Bewegung zurück, "back to the roots", ausgemacht: Woodstock wurde in den Neunzigern wieder belebt, weder die Punk- noch die Skinheadszene stirbt aus, die Pop-Musik lebt von Retro-Trends. Es wäre möglich, dass sich irgendwo wieder eine Szene findet, die sich an die Häuserkämpfe erinnert und sie wieder aufgreift. Vorerst findet man heute unter dem Stichwort "Hausbesetzer" nur die "Cyber-Squatter", die Hausbesetzer im Internet: Cyber- oder Domain-Squatter lassen sich gezielt eine Internet-Adresse mit einem Firmen- oder Produktnamen reservieren und warten dann darauf, dass der eigentliche Inhaber sein Unternehmen oder seine Marke als Domain registrieren lassen will. Dann versuchen sie, die Adresse für teures Geld zu verkaufen. So haben sich die Zeiten geändert.
Literaturhinweise:
Häuserkämpfe. Transit-Verlag, Berlin 1981 (vergriffen) Dieter Rink: Beunruhigende Normalität. Zum Wandel von Jugendkulturen in der Bundesrepublik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5-6/2002, (im Erscheinen) Deutsche Shell (Hg.): Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie (2 Bände), Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000 Internet: www.shell-jugend2000.de
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006