Kinofilmgeschichte
Die Kamera bei Tisch
Schon in der allerersten Filmvorführung der Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 gab es eine Tischszene. Ein Baby wurde gefüttert, Kaffee wurde getrunken. Die Kamera betrachtete die Familie der Kinopioniere. Und wenn auch noch kein Ton erklang, war dem Zuschauer doch deutlich, dass hier eines funktionierte: Kommunikation.
Armut und Reichtum
Den Tisch und die Gemeinschaft der Tafelnden ist das Kino nie mehr los geworden. Bei Tisch und am Tisch zeigt sich auf den ersten (Kamera-) Blick viel. Die soziale Lage zum Beispiel. Der Kohl auf den Tellern steht für die Armut nach dem Ersten Weltkrieg in G.W. Pabsts Die freudlose Gasse, das zelebrierte Design der Speisen kündet von Luxus in Martin Scorseses Zeit der Unschuld. Oder der soziale Zusammenhalt. Die Versöhnung der Familie beim Thanksgiving Dinner in Woody Allens Hannah und ihre Schwestern – und die Unheilbarkeit der Familie, die den Tisch zum Schlachtfeld macht, in Danny de Vitos Der Rosenkrieg.
Diner
Treffpunkt Tisch
Der Tisch war immer schon mehr als ein Platz zur Nahrungsaufnahme. An diesem Tisch treffen sich die wieder, die auseinander gegangen waren. Dort kommt der Fremde hin und berichtet von der Welt. Wer zu Tisch geladen wird, steht unter dem Schutz der Gastfreundschaft; sie zu verletzen bricht ein heiliges Tabu. Am Tisch sind beinahe drei Jahrtausende vor der Erfindung des Kinos seine Anfänge als narratives Medium zu finden, wenn Sänger die großen Geschichten von Troja oder Odysseus erzählten. Und beim Gastmahl der griechischen Philosophen wurden die Urgründe der Welt beim Symposion gesucht und diskutiert. Die Idee der Tafelrunde aus dem unsterblichen Sagenkreis um König Artus vereint alle diese Aspekte und bringt einen demokratischen Ansatz ins Spiel: Die runde Tafel kennt keinen, der ihr vorsitzt.
Riten der Gemeinschaft
Der Tisch steht auch im Kino zentral. Das hat seine dramaturgischen Notwendigkeiten: Bei Tisch tauscht man sich aus. Mit den Speisen werden Informationen gereicht. Da wird zugleich der Zuschauer, quasi als heimlicher Gast, informiert. Es gibt Filme, die beinahe ihre ganze Geschichte an einem Tisch erzählen:
Diner von Barry Levinson gehört dazu. Und es gibt Filme, die an großen Tafeln immer wieder zusammenführen, was längst auseinander driftet und die mit diesem Zusammenführen von Menschen Gemeinschaft und Sinn stiften, so lange es geht: Fellini in
Amarcord, Bertolucci in
Novecento, Marleen Gorris in
Antonias Welt, John Huston in
Die Toten. Das funktioniert sogar im kriminellen Bereich: bei den Mafiosi in
Der Pate von Coppola und bei den Juwelenräubern zu Beginn von Tarantinos
Reservoir Dogs. Einer freilich hat die Rituale der Sinnstiftung bei Tisch ins Absurde, in die groteske Sinnleere getrieben: Luis Bunuel in
Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Darin kommt die versammelte Gesellschaft nie zum Eigentlichen, zum Essen. Und das entfaltet Sprengwirkung.
Babettes Fest
Der schmeckende Mensch
Nicht nur das Treffen am Tisch ist von Bedeutung, sondern auch der Genuss der Speisen. Schließlich erweist sich der Mensch in der Zubereitung von Speisen überhaupt erst als zivilisiertes Wesen. Vorher hat er Nahrung wie ein Tier verschlungen. Mit der Nutzung des Feuers, mit der Entdeckung von Würzstoffen, mit der Entwicklung unterschiedlicher Methoden des Garens aber hat er sich auf eine kultivierte Ebene begeben. Konsequenterweise hat er sich dann eine Gattungsbezeichnung zugelegt, die genau auf diesen Ursprung verweist: homo sapiens. Das Wort "sapiens" heißt keineswegs nur "weise" und "verständig", sondern hat die Grundbedeutung "schmeckend". Der Geschmack ist die Wurzel der Weisheit. Beim Kochen und beim Verzehr des Gekochten ist der Mensch also ganz bei sich selbst.
Küche und Tabu
Die großen Filme über das Kochen, allen voran Gabriel Axels Babettes Fest, aber auch Tampopo, Brust oder Keule, Eat Drink Man Woman oder Bittersüße Schokolade erzählen noch dort von der Kunstfertigkeit und der Genussfähigkeit des Menschen, wo sie an die Grenzen des Extremen rühren. Zum Beispiel in Fellinis Satyricon mit seiner dekadenten Orgie bei einem Aristokraten, der Speisen nur noch als Zeichen von Reichtum ausstellt und missbraucht, oder in Ferreris Das große Fressen, in dem Völlerei als größenwahnsinniges Selbstmordunternehmen betrieben wird. Der Eros des Essens ist der Sünde benachbart. Kaum eine menschliche Tätigkeit ist daher so mit religiösen Tabus umstellt wie Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme. Die Küche ist ein heiliger Ort, das Herdfeuer der Römer wurde von geweihten Jungfrauen geschützt. Der Mensch als Fleischesser weiß, dass er im Tier den Bruder tötet. In allen Kulturen kommt das Nahrungsopfer als Kommunikation mit den Göttern vor. Der zentrale christliche Ritus ist das Abendmahl und der Verzehr eines Gottes. Die Szene der Einsetzung des Sakraments beim letzten Abendmahl ist in zahllosen Filmen zum Thema geworden. Als Luis Bunuel sie in Viridiana profanisierte und Leonardo da Vincis Abendmahlsbild von Bettlern nachstellen ließ, löste er noch in den 60er Jahren einen Skandal aus.
Die Kannibalen
Inzwischen hat das Kino aber auch mit dem äußersten Tabu makabre Spiele getrieben. War der Kannibalismus in Claude Faraldos Themroc noch ein Akt anarchischen Protestes gegen seine Umwelt, so wurde er in Ridley Scotts Hannibal zum puren Aushängeschild eines Kinoverständnisses, das Tabuverletzung als kommerziellen Anreiz präsentiert.
Goldrausch
Bilder des Hungers
Der Widerspruch gegen die Orgie und gegen den intellektuellen Tabubruch ist allemal der Hunger, der Tabus aus Not brechen muss. Hunger ist im Kino allerdings seltener als Genuss. Dennoch hat er große Filme hervorgebracht: den brasilianischen Streifen
Vidas Secas – Nach Eden ist es weit oder Lucchino Viscontis
La terra trema oder Vittorio de Sicas
Fahrraddiebe. Und wenn der Hunger die Sinne so sehr verwirrt, dass der Mitmensch als Huhn erscheint und Kannibalismus gerade noch vermieden werden kann, dann kann das so überwältigend komisch sein wie in Charlie Chaplins
Goldrausch. Als der Tramp schließlich seinen Schuh verzehrt, hat er alle Sinne des kultivierten Menschen wieder beisammen. Er kocht den Stiefel und würzt ihn vor dem Verzehr mit Pfeffer und Salz.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006