Am Anfang stand ein ungewöhnlich mutiger Produzent: Der Franzose Alain Brigand war von den Ereignissen des 11. September 2001 genauso geschockt wie viele Menschen, doch er beließ es nicht dabei. Er lud elf international bekannte Regisseure und Regisseurinnen ein, sich mit einer Episode an einem "Omnibusfilm" zum Thema zu beteiligen. Dabei sollte es keinerlei inhaltliche oder andere Vorgaben geben – bis auf die exakte Filmlänge jeder Episode von elf Minuten, neun Sekunden und einem Bild. Sie beruht auf dem Datum der Terroranschläge und gibt dem Film seinen rätselhaften Titel.
Zeit für Reflexionen
Das Ergebnis ist so schillernd und facettenreich wie Brigands Auswahl der Regisseure. Da steht kühl Analytisches neben Emotionsgeladenem, das klassische Kammerspiel neben dem formalen Experiment, die leichtfüßige und doch hintersinnige Komödie neben dem politischen Aufschrei. Und wie nicht anders zu erwarten:
11'09''01 ist gewiss nichts für "ein paar schöne Stunden im Kino", sondern 130 Minuten harte, in mancher Episode bis an die Schmerzgrenze gehende Kost. Ein wenig überraschend ist dagegen, dass auch ein so elementares Ereignis wie das vom 11. September 2001 wenige Monate später keinen der Regisseure mehr so erschüttert hat, dass er die durch sein früheres Schaffen vorgezeichneten Bahnen radikal verlassen hätte.
Eitelkeiten
Beispiel: Claude Lelouch. In seiner Episode tippt eine taubstumme Französin in New York in ihren Computer eine Mitteilung für ihren eben aus dem Haus gegangenen Partner. Frustriert von der fremden, gigantomanischen Stadt und dem häufigen Alleinsein will sie die Beziehung beenden – und bekommt gar nicht mit, was uns der Fernseher im Vordergrund längst zeigt: die qualmenden und dann einstürzenden Twin Towers, unter denen wir auch ihren Partner vermuten dürfen, der dort als Taubstummen-Fremdenführer arbeitet. So brillant der Plot, so banal und fast peinlich die Wendung, die Lelouch ihm gibt, wenn der tot Geglaubte plötzlich wieder vor ihrer Tür steht – zwar staub- und rußbedeckt, aber bereit zum Beziehungs-Happy End.
Licht und Schatten
Der Protagonist in Sean Penns ein wenig kryptischem Ein-Personen-Stück könnte ein Nachbar der Lelouchschen Figuren sein, denn er wohnt buchstäblich im Schatten der Twin Towers. Der große Ernest Borgnine spielt den alten Witwer, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann und sich eines ihrer Kleider als imaginären Gesprächspartner aufs Bett legt. So entrückt ist er der Realität um sich herum, dass er von der Katastrophe nebenan nichts mitbekommt – bis auf eine Blume, die schon fast verwelkt, plötzlich wieder aufblüht, da ihr die Türme nun nicht mehr das Sonnenlicht stehlen. Auch hier also ein fast Hollywood-reifer Märchenschluss – und doch, zu Ende gedacht, auch eine subtile Kritik an der Inhumanität der Megacities.
Zahlenspiele mit Opfern
Während Lelouch die Katastrophe mit einer Variante der für ihn typischen "Ein Mann und eine Frau"-Thematik bearbeitet, sieht der Ägypter Youssef Chahine in der Pressekonferenz zu einem seiner Filme, die er dann wegen der Berichte vom WTC publikumswirksam absagt, eine Möglichkeit, das Geschehene zu verarbeiten. Er führt Gespräche über den Nahostkonflikt – mit zwei Toten, die er kraft seiner Fantasie und "außergewöhnlichen Sensibilität" (die ihm der in Beirut durch ein Attentat getötete GI ausdrücklich bescheinigt) wieder lebendig gemacht hat. Die fast routinemäßige Aufrechnung der Opfer amerikanischer Militärschläge weltweit verdeutlicht in Chahines Selbstinszenierung seine kritische Sicht auf die US-Außenpolitik.
Formale Radikalität
Minutenlanges Schwarzbild, nur unterlegt mit einer Collage kaum identifizierbarer Tonfetzen und unterbrochen von zunächst flashartig kurzen, dann länger werdenden Clips jener Bilder von den Twin Towers, die die Medien zumeist aus Pietät zurückgehalten hatten, wieder und wieder der Kameraschwenk abwärts, der den Sprung verzweifelter Opfer in den Tod begleitet – wie in seinem Spielfilm
Amores perros geht der Mexikaner Alejandro González Inárritu auch hier sein Thema mit formaler Radikalität an. Doch die Gnadenlosigkeit, mit der er uns in die Rolle des Voyeurs zwingt, entbehrt nicht einer gewissen Hybris.
Botschaften
Als ein Fanal, als unübersehbare Botschaft gegen die letzte verbliebene Weltmacht USA und ihren "way of life" hatten die Attentäter ihre Attacken geplant und gewiss kühl einkalkuliert, dass die von eben dieser Weltmacht dominierten internationalen Medien dieses Fanal bis in den letzten Winkel des Globus' tragen würden – wie es auch geschehen ist. Doch mit den Bildern der brennenden Türme ging auch ihre politisch-ideologische Bedeutung hinaus in die Welt. Die amerikanische Regierung deutet die Anschläge als einen "Angriff auf die Freiheit", dem nun ein "Krieg der freien Welt gegen den Terrorismus und die Schurkenstaaten" folgen müsse, in dem für Abwägen und kritisch distanzierte Neutralität kein Platz mehr sei.
Erweiterte Perspektiven
Genau hier setzen die besten der Beiträge zu
11'09''01 an, die – Zufall oder nicht? – allesamt fernab vom Ort der Anschläge spielen. Sie scheren aus der verengten CNN-Perspektive aus, ignorieren die vorgestanzten Formeln sowie Denkverbote und rücken die Proportionen einer Welt zurecht, die weit weniger globalisiert ist, als uns die Propheten der Wall Street glauben machen wollen. Da schildert die Iranerin Samira Machmalbaf den Versuch einer Lehrerin in einem afghanischen Flüchtlingslager, ihre Schüler/innen zu einer würdigen Schweigeminute für die Opfer von Ground Zero zu bewegen – vergeblich, denn die Knirpse, die eben noch wie ihr ganzes Dorf Lehmziegel zum Schutz gegen einen erwarteten US-Bombenangriff formten, beschäftigt das Schicksal eines in den Brunnen gestürzten Nachbarn und nicht das der anonymen, fernen Toten. Die Frauen von Srebrenica in Danis Tanovics Episode lassen sich durch die Meldungen aus New York nicht davon abhalten, wie an jedem 11. des Monat der Opfer des Massakers in ihrer Stadt am 11. Juli 1995 mit einem Trauerzug zu gedenken. Und der Japaner Shohei Imamura, schon durch seinen Spielfilm
Schwarzer Regen als radikaler Pazifist ausgewiesen, schleudert uns ein pathetisches "Es gibt keinen gerechten Krieg" ohne Wenn und Aber als Schlusssatz und Fazit des gesamten Films entgegen.
Analysen
Wie man sich der "Pflicht der Reflexion" mit komödiantischer Leichtigkeit entledigt, zeigt der Beitrag von Idrissa Ouedraogo aus Burkina Faso. Auf dem Markt der Hauptstadt entdecken ein paar Jungen einen Mann, dessen Konterfei sie aus der Zeitung zu kennen glauben: Osama bin Laden, weltweit gesucht, zum Ergreifen nah in ihrer Stadt! Die Jagd geht los, doch während die jungen Verfolger noch überlegen, was sie mit dem gigantischen Kopfgeld von 25 Millionen Dollar anstellen wollen, entschwindet ihnen "Osama" am Flughafen. Was wie ein argloser Kinderfilm daherkommt, ist doch Ausfluss tieferer Analyse. Spielerisch und mit augenzwinkerndem Humor mischt Ouedraogo in die Handlungsmotive seiner jungen Helden, was man auch als treibende Kräfte im oft zitierten "Kampf der Kulturen" ausmachen kann: die Armut der Dritten Welt, die Kumpanei der Reichen, die Arroganz des Geldes, die westliche Doppelmoral, das angeblich eherne Gesetz der Marktwirtschaft, der von den Medien geschürte Verfolgungswahn.
Wechselbäder
Die Inderin Mira Nair attackiert in ihrem Beitrag den aus diesem Wahn geborenen Pauschalverdacht, der die Familie eines arabisch aussehenden jungen Mannes in New York trifft, der seit dem 11. September spurlos verschwunden ist. Als man seine Leiche unter denen der umgekommenen Rettungstrupps findet, wird aus dem gesuchten "Terroristen" ein Nationalheld. In der israelischen Episode von Amos Gitaï gerät eine TV-Reporterin zufällig mitten in die Rettungsarbeiten nach einem Autobomben-Attentat. Doch nicht das Blut und das Leiden vor Ort bringen sie aus der Fassung, sondern erst die Nachricht, dass sie nicht auf Sendung ist – die News aus New York haben höheren Marktwert.
Wider das Vergessen
Der Brite Ken Loach, der als einer der letzten explizit politischen Regisseure bekannt ist, nutzt Brigands Angebot zu dem Versuch, ein in den Medien verdrängtes oder vergessenes Kapitel der Geschichte wieder aufzuschlagen, dass in seiner Sicht mit den New Yorker Anschlägen durch weit mehr als nur den Datumszufall verknüpft ist. In einem Brief, den er den im Londoner Exil lebenden chilenischen Liedermacher Vladimir Vega an die Hinterbliebenen der WTC-Opfer schreiben lässt, ruft er uns einen ganz anderen 11. September in Erinnerung, nämlich den des Pinochet-Putsches in Chile 1973, der mit dem Geld und der logistischen Hilfe der US-Regierung die demokratisch gewählte Regierung Allende hinwegfegte und ca. 30.000 Menschenleben forderte. Mit den Mitteln solider Recherche im Stile des klassischen Agitationsfilms von Santiago Alvarez schneidet Loach Archivaufnahmen von 1973 in Vegas Texte und Lieder ein, setzt George W. Bushs Rede vom "Angriff auf die Freiheit" hart gegen die Bilder der bombardierten Moncada. Ist das polemisch? Ganz gewiss. Ist das, wie man Loach (und auch dem gesamten Film) vorgeworfen hat, anti-amerikanisch? Auch dies. – Und zwar so gewiss, wie ein Urteil gegen einen überführten Täter eine Aussage gegen das Verbrechen ist. Zur Produktion: Um das Ausmaß der Schockwelle zu dokumentieren, die der 11. September auslöste, um die Resonanz auf die Ereignisse in aller Welt zu dokumentieren, um die menschliche Dimension dieser Tragödie zu verdeutlichen, um das Gefühl durch Verstand zu ergänzen, um allen eine Stimme zu verleihen. Ein kollektiver Film: 11 Regisseure und Regisseurinnen aus verschiedenen Ländern und Kulturen. 11 Visionen der tragischen Ereignisse, die am 11.September 2001 in New York City stattfanden. 11 Blickwinkel, die dem individuellen Gewissen verpflichtet sind. Völlige Freiheit im Ausdruck: Der 11. September 2001 war ein Ereignis, das vorzustellen wir uns nie gewagt hätten. In Echtzeit drangen die Bilder von der Katastrophe in all ihrer Gewalt in unsere Wohnungen. Mit einem Schlag wurde Trauer universell. Wie konnte man kein Mitgefühl empfinden, wenn das Fernsehen das Leiden jener, die dem Tod ins Auge sahen, gleichzeitig in alle Winkel der Welt ausstrahlte? Um das weltumspannende Echo auf dieses Ereignis auf andere Art als durch diese entsetzlichen Bilder festzuhalten, wurde mir sehr bald klar, dass wir die Pflicht der Reflexion hatten. Diese Reflexion sollte nicht der Gegenwart verhaftet sein, sondern sich ausdrücklich der Zukunft zuwenden. Sie sollte in allen Ländern und Regionen verstanden und mitempfunden werden können. Eine Reflexion, die diese Bilder mit anderen Bildern beantwortete. So bat ich elf bekannte Regisseure und Regisseurinnen um einen Beitrag – einen Blick auf ihre eigene Kultur, ihre eigene Erinnerung, ihre eigenen Geschichten und ihre eigene Sprache. Die Vorgabe lautete: "Ein Film, der 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild – 11'09''01 – dauert und sich um die Ereignisse des 11. September und ihrer Folgen dreht." Die Regisseure und Regisseurinnen erfassten das Thema und brachten ihre Sicht der Ereignisse zum Ausdruck, geleitet von den Sorgen und Anliegen ihres eigenen Landes und ihrer eigenen Geschichte. Der Film bringt unterschiedliche Prioritäten und Engagements zum Ausdruck. Jede Meinung ist frei und in völliger Gleichberechtigung zum Ausdruck gebracht. Diesem filmischen Mosaik liegt kein Konsens zugrunde. Zwangsläufig ist es voller Kontraste, so dass es möglicherweise Gefahr läuft, vom künstlerischen und ethischen Standard abzuweichen, dem sich jeder Regisseur verpflichtet fühlt.
Alain Brigand, Künstlerischer Produzent (zitiert aus dem Presseheft zum Film)
Autor/in: Hans-Günther Dicks, 01.12.2002