Hintergrund
Beunruhigend normal? - Jugendrevolten damals (1968) und heute (2004)
Es gab eine Zeit, da war die Welt noch klar eingeteilt. Da gab es die Guten und die Bösen, den Kapitalismus und den Sozialismus, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Wer jung war, war prinzipiell dagegen, und wer über 30 war, dem konnte man nicht mehr trauen. Wer eine Weltanschauung hatte – und alle Weltanschauungen endeten mit einem "ismus" – wusste, wie man sich zu orientieren hatte, sei es beim Essen, beim Wohnen, bei der Partnersuche oder im Studium. Marxisten tranken Bier, Sozialisten Rotwein und Anarchisten Kaffee.
Die 68er-Revolte
Die Zeit begann 1968 und endete irgendwann in den 1970er-Jahren. Sie klang mit den letzten marxistischen Zellen aus, die irgendwann aufhörten, sich an der Illusion abzuarbeiten, die Arbeiterklasse werde sich eines Tages doch noch zum revolutionären Kampf erheben. Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde (1982), waren gerade die letzten großen Anti-Nachrüstungsdemonstrationen vorbei. Es begann eine bleierne Epoche, und je lähmender die Gegenwart sich fortschleppte, desto "goldener" strahlte der Glorienschein der scheinbar verlorenen 1968er-Revolte.
Ungelöste Widersprüche
Die Zeit, in der die Fronten relativ klar waren, ist längst vorbei. Heute erscheint die Gesellschaft mit ihren Konflikten besonders unübersichtlich, verworren, widersprüchlich. Gewerkschafter/innen, die für Lohnerhöhungen eintreten, müssen sich fragen lassen, ob sie ihr Unternehmen endgültig nach Rumänien vertreiben wollen. Kernkraftgegnern/innen wird vorgeworfen, sie ignorierten den Treibhauseffekt, der durch neue Kohlekraftwerke nur noch weiter beschleunigt werde. Aufrechte Friedensaktivisten/innen stimmen für ein Eingreifen der Bundeswehr im Kosovokonflikt. Es gibt keinen gemeinsamen moralischen Ansatzpunkt mehr, mit dem sich solche Widersprüche aushebeln ließen. Wenn sich die Soziologen/innen mit sorgenzerfurchter Stirn über die "Jugend heute" beugen, kommt immer dasselbe heraus: Der politische Betrieb lockt niemanden mehr "hinter dem Ofen" hervor – man ist weder dagegen noch dafür. Die junge Generation will nichts mehr von politischer Beteiligung wissen: Bundestag, Landtag, Kommunalparlament, Reden, Abstimmungen, Fraktionssitzungen – das überlässt man gerne und ohne Neid der älteren Generation.
War das alles?
Was aber ist mit Fragen wie Bildung, Jobs, Werte, Erziehung, Familie, Kinderbetreuung, Schule? Genau an diesem Punkt haben Jugendkulturen oft und gerne die "Alten" herausgefordert, ob es die '68er waren, die grünen Alternativen, die Punks oder die Hausbesetzer/innen. Sind sie alle im Mainstream aufgegangen? Der Jugendforscher Dieter Rink (Hochschule Mittweida) weist darauf hin, es sei sogar ein "Zeichen für Stärke, wenn eine Gesellschaft Jugendkulturen aushält und integriert, statt sie zu kriminalisieren, auszugrenzen und zu zerstören." Die Gesellschaft gewinne durch sie an Vielfalt und Anziehungskraft, sie erneuere sich von selbst. Das Problem ist eher, dass nichts mehr nachkommt. Seit den 1990er-Jahren vermisst Rink eine neue "spektakuläre, gar politische Jugendkultur". Die letzten waren die Hausbesetzer/innen. Selbst die Neonazis seien nichts Neues, ihre Wurzeln reichen bis in die 1980er-Jahre zurück. Alles werde wieder belebt, jeder Trend recycelt. Jugendkulturen seien inzwischen so "allgegenwärtig" wie "unspektakulär": Alles geht, alles wird vermarktet, Trends wechseln beliebig. Dass sich nichts Neues, keine neue Szene, keine neue Jugendkultur abzeichnet, ist für Rink kein gutes Zeichen, etwa in dem Sinne: Jetzt haben sie sich endlich "beruhigt". Für ihn sind die Jungen heute "beunruhigend normal".
Pragmatismus
Doch es gibt sie noch, die Visionen, die Utopie von einer gerechten Welt. Die Globalisierung hat sie auf die Tagesordnung gesetzt. Man ist für fairen Handel, gegen Kinderausbeutung, gegen das Roden der Regenwälder und für einen Schuldenerlass durch die Reichen. Für einen Stand in der Innenstadt, für eine Demonstration im Zeichen der Antiglobalisierungs-Bewegung Attac, für einen Friedensmarsch – dafür reicht das Engagement allemal. Und wenn sie Zeit haben, gehen die Eltern sogar mit. Der Unterschied zu 1968 und den Jahren danach ist, dass man nichts mehr riskiert. Die festgefügte Ordnung in Frage stellen, sich auf einen Kampf gegen das Unrecht einlassen – das ist selten geworden, denn es bedeutet, die "Matrix" zu verlassen, Karriere, Geldverdienen, die eigene Zukunft aufs Spiel zu setzen. Dafür sind die meisten zu pragmatisch geworden: Wer sich engagiert, will auch etwas davon haben. Wer ein praktisches Problem in Angriff nimmt, sieht auch auf seine/ihre eigenen Chancen. Ideologie ist out.
Gute Ideen überleben
Der Film
Die fetten Jahre sind vorbei stellt sich dagegen. Er erinnert an radikale Utopien und bedingungslosen Einsatz. Dass es heute keine Jugendkultur mehr gebe, liege daran, dass alles schon mal ausprobiert wurde und nichts geklappt hat, meint Jule irgendwann im Film. Trotzig hält ihr Jan entgegen: "Aber die besten Ideen haben überlebt – und das macht uns heute nur stärker." Quelle: Dieter Rink: Beunruhigende Normalisierung – Zum Wandel der Jugendkulturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B5/2002
www.bpb.de/publikationen
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006