Hintergrund
Das Wohlstandsgefälle in Deutschland
Die Existenz von Armut zählt bis heute zu den großen ungelösten gesellschaftlichen Problemen. Obwohl der durchschnittliche Lebensstandard in Deutschland und Europa im Vergleich mit anderen Teilen der Welt als relativ hoch und abgesichert gilt, wächst in den reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten die Anzahl der Armen. Ein Mindestmaß an sozialer Absicherung und gesellschaftlicher Teilhabe ist längst nicht für alle Menschen verwirklicht.
Arm und Reich
Armut in Deutschland zeigt sich durch die Beeinträchtigung oder Unterversorgung existenzieller Lebensbereiche wie Wohnung, Gesundheit und gesellschaftliche Partizipation. Nach EU-Definition gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung verfügt. Danach waren im Jahr 2002 13,1 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen arm. Mehr als ein Drittel der Bundesbürger/innen (36,7 %) verfügt lediglich über ein Einkommen von 50 bis 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Betrachtet man die Verteilung des monatlichen Gesamteinkommens, zeigt sich eine deutliche Ungleichverteilung. Während die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung 9,3 Prozent des monatlichen Gesamteinkommens erwirtschaften, verteilen sich 36,4 Prozent auf das oberste Fünftel der Einkommensempfänger.
Neue Armut
Geprägt ist die Armut in Deutschland durch eine Verschiebung von der Altersarmut hin zu einer wachsenden Armutsgefährdung von Kindern und Jugendlichen, meist bedingt durch Arbeitslosigkeit von einem oder beiden Elternteilen. Von den 2,81 Millionen Menschen, die im Jahr 2003 Sozialhilfe erhielten, waren 1,08 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 11 bis 20 Jahren. Die Sozialhilfequote von Kindern ist damit fast doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Ein extrem hohes Armutsrisiko tragen junge Menschen, die in "Rumpffamilien" oder kinderreichen Familien aufwachsen. Nach dem von der Hans-Böckler-Stiftung, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Auftrag gegebenen Armutsbericht gelten ca. zwei Millionen Kinder bis zu 15 Jahren (ca. 14 Prozent dieser Altersgruppe) als arm. Für diese Gruppe ist eine längerfristige ökonomische Mangelsituation besonders belastend. Die geminderten Bildungschancen beeinträchtigen nachhaltig die Chancen auf eine bessere Zukunft.
Schuldenfalle
Parallel zur steigenden Zahl an Sozialhilfeempfängern/innen steigt die Verschuldung. Käme heute jemand auf die Idee, den zwei Millionen Haushalten am unteren Ende der Vermögensskala zwölf Milliarden Euro zu schenken, stünden diese trotzdem gerade erst bei Null. So viel Geld brauchen diese Haushalte allein, um ihre Schulden zu bezahlen. Deutlich gestiegen ist zudem die Armut unter Alleinerziehenden und die Zahl der Obdachlosen. Die Wahrscheinlichkeit, arm zu werden, trifft immer größere Bevölkerungsteile.
"Wer hat, der hat ..."
Betrachtet man die Armut in Relation zum Reichtum der bundesdeutschen Gesellschaft, zeigt sich eine Verschärfung der sozialen Gegensätze. Während am breiten unteren Rand der Gesellschaft die Einkommen sinken, steigt auf der anderen Seite der Einkommenspyramide die Zahl der Einkommensmillionäre. Zwischen 1995 und 2003 stieg ihre Zahl von 510.000 auf 756.000 Menschen. Schätzungen zufolge besitzt das obere Fünftel der Gesellschaft mehr als 62 Prozent des gesamten Vermögens. Während das Geldvermögen des reichsten Viertels der Bevölkerung in Westdeutschland in den letzten zehn Jahren um 27,5 Prozent anstieg (1993-2003), halbierte sich im gleichen Zeitraum das Geldvermögen des ärmsten Viertels (- 49,5 Prozent).
Soziale Ungleichheit
Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 dokumentiert, welches Ausmaß die soziale Ungleichheit in Deutschland angenommen hat. Während es einer großen Mehrheit der Bevölkerung immer noch gut oder sogar sehr gut geht, wächst die Anzahl derer, die in relativer Armut, Unsicherheit und Existenzangst leben. Es spricht auch Einiges dafür, dass Solidarität und Sozialität in der bundesdeutschen Gesellschaft rückläufig sind. Deutschland gehört zwar im internationalen Vergleich zu den eher egalitären Gesellschaften, aber von einer Nivellierung der materiellen Ungleichheit ist die Bundesrepublik weit entfernt. Literatur: Bundesregierung (Hrsg.): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2001 J. Staudinger (Hrsg.): Reichtum heute. Diskussion eines kontroversen Sachverhalts, Münster 2001
Autor/in: Ina Pfeiffer (punctum, Bonn), 21.09.2006