Rückkehr in die Heimat
Siebzehn Jahre nach seiner überstürzten Abreise kehrt der mittlerweile als Kriegsreporter und Fotograf bekannt gewordene Paul Prior zur Beerdigung seines Vaters in sein kleines Heimatdorf auf der Südinsel Neuseelands zurück. Der Empfang ist kühl. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Andrew hatte ihm seine "Flucht" nie verziehen und im Dorf galt Paul schon immer als Außenseiter. Nach anfänglichem Zögern entschließt sich Paul dennoch, für eine Weile in seinem Elternhaus zu bleiben, um gemeinsam mit Andrew die Angelegenheiten der Familie zu regeln. In einer Hütte hinter dem Obstbaumfeld, die einst für seinen Vater und ihn ein Hort privaten Rückzugs war, trifft Paul die 16-jährige Celia. Auch sie hat sich zwischen all den Büchern, Bildern und Schallplatten von Pauls Vater ihr eigenes kleines Refugium geschaffen.
Seelenverwandtschaft
Celia, so stellt sich heraus, ist die Tochter von Pauls Jugendliebe Jackie. Früher einmal träumte Jackie davon, Rocksängerin zu werden, so wie Patti Smith, deren Songs sie Paul vorspielte. Früher waren beide so verliebt, dass sie sich gegenseitig ihre Namen auf die Zehen tätowierten. Jetzt hat Jackie die Fleischerei ihres verstorbenen Mannes übernommen. Ihre Tochter hingegen möchte Schriftstellerin werden – und sie hat Talent. Mit den Jungen in ihrem Alter kann Celia wenig anfangen. Sie interessiert sich aber sehr für Paul und findet in dem weit gereisten Mann einen Seelenverwandten, der ihre Sehnsüchte und Gedanken teilt. Allmählich entwickelt sich zwischen dem ausgebrannten Einzelgänger Paul und dem eigensinnigen Mädchen eine intensive Freundschaft. Eindringlich und authentisch erzählt
Als das Meer verschwand von den Lebenswelten und Freiheitssehnsüchten junger Menschen.
Die Kunst als Zuflucht
Paul ermutigt Celia, an einem Kurzgeschichtenwettbewerb teilzunehmen und unterstützt sie mit Literaturtipps und Gesprächen. Tatsächlich erhält Celia für ihre poetische Geschichte
Als das Meer verschwand den zweiten Preis. Vorgetragen von Celias Stimme aus dem Off, verleiht diese Erzählung dem Film einen lyrischen Grundton und spiegelt sinnlich die Empfindungen der 16-Jährigen wider. Ein weiteres künstlerisches Motiv ist die Hütte selbst, in der Pauls Vater einst seinen persönlichen sinnesfreudigen Freiraum von der Ehe mit seiner religiösen und depressiven Frau fand. Seit früher Kindheit symbolisiert dieser Ort auch für Paul die Möglichkeit, seine Träume zu leben. Hier konnte er mit Jackie alleine sein, hier vertraute er dem Vater auch seine tiefe Sehnsucht an, die provinzielle Enge des kleinen Dorfes zu verlassen. Von einer verheißungsvollen fremden Welt, in Länder zu reisen, deren Sprache sie nicht versteht – davon träumt auch Celia, der er in dieser kleinen Hütte zum ersten Mal begegnet. Aber irgendwo an diesem Ort liegt auch ein düstere Geheimnis verborgen, das Pauls Familie umgibt.
Mehr als ein Thriller
Geschickt verbindet Regisseur Brad McGann die Elemente eines klassischen Familiendramas mit denen eines Thrillers. Als Celia eines Tages spurlos verschwindet, gerät Paul in Verdacht, dafür verantwortlich zu sein, sie vielleicht missbraucht oder gar getötet zu haben. Zunehmend sieht er sich der offenen Anfeindung der Dorfbewohner/innen ausgesetzt, während Begegnungen mit Jackie oder seinem Bruder in beredtem Schweigen enden. Kontinuierlich verkettet
Als das Meer verschwand Gegenwart und Vergangenheit durch gezielte
Rückblenden. Die lange zurückliegende Zeit mit Jackie, aber auch die gemeinsamen Momente mit Celia werden im Film zur Erinnerung. Eine tragische Geschichte von sexuellem Missbrauch, Inzest und familiärer Gewalt scheint sich abzuzeichnen. Je tiefer die Zuschauenden jedoch in die Gefühlswelten von Paul hinein gesogen werden, desto stärker entzieht sich ihnen die Gewissheit über das, was sich tatsächlich ereignet hat. Wie starb Pauls Mutter wirklich? Wer ist Celias Vater? Was steht zwischen den Brüdern Andrew und Paul?
Traumata und Sehnsüchte
Brad McGann erzählt seine Adaption des Romans von Maurice Gee als spannendes Drama, das seine Geschichte ganz allmählich entwickelt und das Publikum mit eindrucksvoller poetischer Kraft in Bann zieht. Das trügerische Spiel mit Licht und Schatten in der Hütte, die weiten
Landschaftspanoramen – mal frühlingshaft leicht, mal winterlich schwer – machen die Begrenztheit der dörflichen Welt umso eindringlicher spürbar.
Als das Meer verschwand erforscht die Hintergründe und Ursachen einer längst vergangenen Familientragödie, deren Folgen das Leben aller Beteiligten noch immer schmerzlich prägt. Mit Pauls Rückkehr werden die alten Traumata und Enttäuschungen wach, die Verdrängungsmechanismen und mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden der Normalität brüchig. Dabei zielt der Film weder vereinfachend auf persönliche noch auf soziale Schuldzuweisungen. Eindringlich werden Motive, Szenen und Erinnerungsfragmente zu einem emotional tiefschichtigen existenziellen Bild verwoben, dessen Fluchtlinien immer wieder auf die ungeklärten Beziehungen der Figuren hinlaufen. Schließlich enthüllt sich eine ebenso grausame wie tragische Wahrheit, die zugleich einen Hoffnungsfunken in sich birgt: Nur wer sich seiner Vergangenheit stellt, kann auch die Zukunft wirklich leben.
Autor/in: Rotraut Greune, 08.12.2006