Modell einer multikulturellen Vorzeigefamilie
Die Welt ist eine andere geworden seit dem 11. September 2001. Nicht nur in den USA, Afghanistan oder dem Irak. Die Koordinaten haben sich auch in Deutschland verschoben. Dort lebt in Hamburg die gebürtige Deutsche Maya Slimani, Art Directorin einer Modezeitschrift, zusammen mit ihrem Mann Tariq und dem gemeinsamen Sohn Karim. Tariq ist Wissenschaftler, Virologe, und erforscht in einem großen Hamburger Labor gefährliche Krankheitserreger.
Er spricht ausgezeichnet Deutsch, ist aber in Algerien geboren und aufgewachsen, und er ist Muslim. Das Ehepaar ist verliebt wie am ersten Tag, der Sohn selbstverständlich integriert. Die Slimanis sind glücklich, eine multikulturelle Vorzeigefamilie. Das ist die Ausgangslage von Folgeschäden, dem fürs Fernsehen gedrehten, aber mittlerweile bei verschiedenen Festivals preisgekrönten Film von Samir Nasr, fast eine Versuchsanordnung. Denn nun bricht die Weltpolitik in die bürgerliche Idylle ein. Die ersten Risse zeigen sich während einer Diskussion über den Islam bei einem Essen in Mayas Kollegenkreis. "Seit dem Anschlag in New York", stellt Tariq bitter fest, "gibt es jede Menge Islam-Experten". Auf das unschuldige Geständnis der Tischnachbarin, sie habe ihn früher für einen Franzosen gehalten, reagiert er voller Sarkasmus: "Ich arbeite an meinem algerischen Akzent, aber nach 120 Jahren französischer Kolonisierung ist das nicht so einfach."
Verdächtigungen und wachsendes Misstrauen
Wenig später tauchen zwei Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) auf. Sie suggerieren, Tariq könnte ein "Schläfer" sein, ein Terrorist, der auf seinen "Einsatz" wartet. Sie zeigen Maya Fotos, Indizien, vermeintliche Beweise und bitten sie um ihre Mitarbeit, um Spitzeldienste. Maya lehnt erzürnt ab. Aber die Saat ist gelegt, das Misstrauen beginnt zu keimen. Plötzlich tauchen, wie von selbst, immer neue Verdachtsmomente auf: ein plötzlicher Besuch eines alten Freundes; Gebetsgemurmel aus dem Gästezimmer; seltsame Finanztransaktionen auf dem gemeinsamen Konto; der Besuch einer islamischen Hochzeit; verdächtige Flugtickets im Papierkorb.
Während die Radionachrichten immer neue Meldungen von Terror-Anschlägen bringen und Politiker/innen offen das Abhören von Telefonen propagieren, bemerkt Tariq, dass er beschattet wird. Kann im Schatten des 11. September jeder Muslim zum potenziellen Islamisten werden, der Wissenschaftler zum Sicherheitsrisiko im eigenen Forschungsinstitut? Oder ist Tariq nur paranoid? Sieht er Anschuldigungen, wo keine sind? Der Film hält diese Fragen bewusst in der Schwebe, denn für Tariq spielt es letztlich keine Rolle: Trotz Integration wird der unbescholtene Bürger wegen seiner kulturellen Zugehörigkeit zum Verdächtigen. Das Klima grundlegender Verunsicherung macht selbst vor der Grundschule nicht Halt. Dort wird Sohn Karim gefragt: "Ist dein Vater ein Terrorist?". Schließlich brechen zwischen den Eheleuten kulturelle Differenzen auf, die längst verarbeitet schienen und Maya muss sich fragen, ob "unser Leben nur ein Vorwand war, eine einzige große Lüge". Die Eskalation ist vorprogrammiert.
Zerbrechliches Ideal einer liberalen Gesellschaft
Mit einem feinen Gespür für die Psychologie der Figuren seziert Folgeschäden den Einfluss veränderter politischer Rahmenbedingungen auf die kleinste gesellschaftliche Einheit, eine mitteleuropäische Familie. Und dekliniert an ihr den großen, von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington apostrophierten "Clash of Civilizations" durch. Doch vor allem zeichnet Regisseur Nasr exakt nach, wie die abstrakte Bedrohung durch einen möglichen Anschlag von islamistischen Extremistengruppen wie Al-Qaida Einfluss nimmt auf den konkreten Alltag in Deutschland. Folgeschäden gelingt ein sensibles Stimmungsbild einer Nation, in der die Angst vor Terrorattacken eine verschärfte politische Wachsamkeit erfordert und auch im privaten Leben unterschwellig ständig präsent ist. Zugleich entlarvt der Film ganz nebenbei, wie zerbrechlich das Ideal einer liberalen, multikulturellen Gesellschaft ist.
Eine wahre Begebenheit
Das Drehbuch des Autors Florian Hanig beruht auf einer wahren Begebenheit. Neben der Inszenierung, die es vermeidet, den authentischen Stoff zum Spektakel aufzubauschen, liegt die größte Stärke des Films im Spiel seiner Protagonisten/innen. Das Drama zeichnet sich in den Gesichtern von Mehdi Nebbou (Tariq) und Silke Bodenbender (Maya) ab. Dass diese Charaktere mit weitgehend unbekannten Darstellern/innen besetzt wurden, sorgt dafür, dass keine Fernseh-Prominenz ihre künstlerischen Leistungen überlagern kann. Die Erlösung für Tariq und Maya bringt die Staatsgewalt, die eine Akte schließt, die sie niemals hätte öffnen dürfen, und die mit kalter Präzision feststellt, dass die Verdachtsmomente sich als unbegründet erwiesen haben. Die Trümmer einer Liebe, die zurückbleiben, sind nur die unbedeutendsten unter den Kollateralschäden im weltweiten Krieg gegen den Terror.
Autor/in: Thomas Winkler, 04.09.2007