Im Schatten des Traumas
Beim Zusammensturz der New Yorker Zwillingstürme am 11. September 2001 hat Charlie Fineman seine Frau verloren, seine drei kleinen Töchter – und darüber beinahe den Verstand. Er bricht alle Brücken hinter sich ab, kreuzt auf einem motorisierten Tretroller durch Manhattan und versucht, die Erinnerungen an seine Familie zu verdrängen, indem er sich in seine Jugendzeit zurückversetzt. Das Medium dafür ist vor allem eine Sammlung erlesener Rockklassiker, die Charlie als akustisches Schild gegen die Außenwelt stets bei sich trägt. Sobald er seine Wohnung verlässt, stülpt er sich Kopfhörer über und lüftet sie erst wieder, wenn er zu Hause angekommen das übermächtige Böse auf der Spielkonsole herausfordert. Charlie wird nicht müde, im "Schatten des Kolosses" zu kämpfen, weil er selbst seit mehreren Jahren im Schatten eines historischen Traumas lebt.
Nachwirkende seelische Erschütterungen
Die Ereignisse von "9/11" kann man als veristisches Experiment angehen, wie Oliver Stone (
World Trade Center, 2006) und Paul Greengrass (
Flug 93, 2006) es in ihren auf realen Begebenheiten basierenden Filmen getan haben, oder auf dem metaphorischen Umweg, den nach Spike Lee (25 Stunden, 2002) nun auch Mike Binder einschlägt.
Die Liebe in mir vermeidet konkrete Bezüge auf den Jahre zurückliegenden terroristischen Anschlag oder dessen Auswirkungen auf die aktuelle Politik der USA.

Der Film ist ein Versuch, die immer noch nachwirkenden seelischen Erschütterungen anhand eines Einzelschicksals wie mit einem Seismografen aufzuzeichnen, und wenn sich Binder dabei auch gelegentlich selbst im Weg steht, so macht er doch auf eindrucksvolle Weise vieles richtig. Bereits mit der Eröffnungssequenz verleiht er seinem Film eine unverwechselbare Stimmung: Die Kamera verfolgt Charlie Fineman auf seinem schrullig anmutenden Roller durch die nächtlichen Straßen von New York, gleitet mit ihm an ausgestorbenen Häuserzeilen entlang und wir lernen auf diese Weise sein scheinbar zielloses Leben kennen. Für diese ersten Aufnahmen verwendet Binder ein grobkörniges Filmmaterial, dessen düstere und unruhig wirkende Auflösung fortan zum Merkmal von Charlies Alptraum wird. Während alle weiteren Charaktere ihr Leben bei Tageslicht führen, ist die Hauptfigur auf das auch in ihrer Wohnung herrschende Zwielicht abonniert.
Wanderer zwischen zwei Welten
Eines Tages wird Charlie Fineman auf der Straße von einem alten Bekannten angesprochen. Die beiden haben sich Jahre nicht gesehen und weil ihm Alan Johnson, der Charlies Familie nie kennen lernte, wie eine Erinnerung aus einer glücklicheren Zeit erscheint, wird er von ihm als freundschaftlicher Begleiter akzeptiert. Gemeinsam treten sie dem an Charlies Apartmentwand projizierten Koloss des Computerspiels entgegen und beschwören mit nächtlichen Jam-Sessions die Ungebundenheit früherer Tage. Was Charlie beim Vergessen hilft, bietet auch Alan, dem erfolgreichen Zahnarzt, ein willkommenes Ventil, um für wenige Stunden dem eigenen Leben als mustergültiger Vorstand einer Bilderbuchfamilie zu entfliehen. Für eine Weile ist Alan ein Wanderer zwischen zwei Welten, erst als er Charlie auf seinen Verlust anspricht, zeigt sich, welcher Abgrund aus Schmerz und Schuldgefühlen die wiedervereinten Freunde trennt.
Ästhetik der Verlorenheit
Die Liebe in mir entwickelt sich zum gruppentherapeutischen Melodram, in dem nicht nur der traumatisierte Held lernen muss weiterzuleben, sondern die Welt aller Figuren aus dem Gleichgewicht geraten ist. Während eine von Alans Patientinnen an ihrer furchtbar gescheiterten Ehe leidet, trauern Charlies Schwiegereltern auf ihre Weise, und auch Alan Johnson passt nicht ohne Grund die im selben Ärztehaus praktizierende Psychoanalytikerin immer wieder wie zufällig ab.

Um die Verlorenheit seiner Figuren zu betonen, lässt Binder die Welt um sie herum im Unschärfebereich versinken. In einer frühen Szene zwischen Alan (im Vordergrund) und seiner Ehefrau (im Hintergrund) wird dies exemplarisch inszeniert: Während des Gesprächs fokussiert die Kamera jeweils die sprechende Person, während das Bild der/s Zuhörenden verschwimmt. Dieses Stilmittel variiert Binder im Verlauf des gesamten Films, etwa bei den mit extremen Schärfenunterschieden aufgenommenen Dialogen im Schuss/Gegenschuss-Verfahren. Die Kamera schaut dabei der/m Hörenden über die Schulter, um die/den Sprechenden zu zeigen, wechselt mit der Gegenrede die Seite und bei der nächsten Antwort wieder zurück. Bei der Therapiesitzung Charlie Finemans geht Binder noch einen Schritt weiter und zeigt die Analytikerin und ihren Patienten niemals in einer Einstellung. Er rückt beide Figuren zudem an den äußersten Rand der Leinwand, um die im Gespräch zu überwindenden Distanz auch räumlich auszumessen. Auf behutsame Weise erweitert Mike Binder ästhetisch den Kreis der seelisch Versehrten und nimmt dem "9/11"-Opfer Charlie Fineman etwas von seiner herausgehobenen Stellung. Jedes Unglück, zeigt uns dieser Film, ist zunächst einmal ein privates Schicksal, selbst wenn es von einem welthistorischen Ereignis verursacht wurde. Gelindert werden kann es nur durch persönliche Zuwendung und ein neues Gemeinschaftsgefühl.
Autor/in: Michael Kohler, 04.09.2007