Die Nahost-Historikerin Ulrike Freitag ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2002 leitet sie zudem das Zentrum Moderner Orient (ZMO). Ulrike Freitag ist Saudi-Arabien-Expertin und hat über das Land den 2010 erschienenen Sammelband
Saudi-Arabien, Ein Königreich im Wandel herausgegeben, der sich mit dem gesellschaftlichen Veränderungen in dem Golfstaat beschäftigt. Im Gespräch berichtet sie über die Lebensbedingungen von saudischen Frauen und gleicht diese mit dem Film
Das Mädchen Wadjda (Wadjda, Haifaa Al Mansour, Deutschland, Saudi-Arabien 2012) ab.
Frau Freitag, im Film Das Mädchen Wadjda wünscht sich die Titelfigur ein Fahrrad, was für unsere hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse ein völlig normaler Kinderwunsch ist. Warum ist das in Saudi-Arabien anders?
Also, ich habe durchaus schon Mädchen gesehen, die in der Öffentlichkeit Fahrrad gefahren sind – allerdings in Jeddah, nicht in Riad. Da muss man schon unterscheiden. Riad ist sehr viel konservativer. In Jeddah gibt es so etwas wie ein öffentliches Leben in eng gesteckten Grenzen. Auch bei Freunden von mir stehen kleine Kinderfahrräder im Hof.
Es wird also als insbesondere in konservativen Kreisen als anstößig betrachtet, als älteres Mädchen oder Frau Fahrrad zu fahren?
Ja, bei Mädchen. Davon abgesehen, ist es in Saudi-Arabien städtebaulich nicht so furchtbar einladend, Fahrrad zu fahren. Es gibt ganz wenige Bürgersteige, wo Kinder halbwegs sicher Fahrrad fahren könnten. Die Bürgersteige enden zudem relativ schnell wieder oder sind zugeparkt. Was dann an Räumen bleibt, sind oftmals nur die Innenhöfe, oder die slumartigen Gebiete, wo die Straßen so eng sind, dass Autos nur langsam durchfahren können und Leute vor allem zu Fuß unterwegs sind.
Nun steht Wadjdas Wunsch nach einem Fahrrad nur an der Oberfläche des Films. Darunter brodelt es heftig. Die Mutter hat beispielsweise Angst, ihr Mann könnte eine zweite Frau heiraten. Wie üblich ist es eigentlich, dass saudische Männer eine Zweitfrau haben?
Es ist definitiv nicht die Regel, und das liegt unter anderem an der ökonomischen Frage. Man muss für eine Zweitfrau aufkommen, zum Beispiel muss der Ehemann für sie eine Wohnung besorgen. Das können sich beileibe nicht alle Saudis leisten. Weiter verbreitet ist eher die Angst vor einer relativ plötzlichen Scheidung. Denn nach der in Saudi-Arabien vorherrschenden Interpretation des Familienrechts können sich Männer relativ einfach von ihren Frauen trennen. Für die Frauen geht das dann auch mit der Angst um ihre materielle Versorgung einher. Denn als Geschiedene ist eine erneute Heirat nicht so einfach, weil die meisten Männer keine bereits geschiedenen Frauen heiraten wollen.
Wenn ein Mann sich ohne große Probleme scheiden lassen kann, warum trennt er sich dann nicht offiziell von seiner ersten Frau, wenn er eine andere heiraten will?
Das mag an alten Verbundenheiten oder auch an sozialem Druck liegen. Oft ist die erste Frau eine Cousine oder eine entfernte Verwandte. Von daher mag es familiäre Zwänge geben, sie zu halten. In der Regel ist es so, dass ein Mann noch einmal heiratet, wenn die erste Frau keine oder keine weiteren Kinder mehr kriegen kann.
Wadjdas Mutter ist berufstätig. Wie üblich ist das für saudische Frauen?
Dieses Phänomen hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Aus zwei Gründen: der wachsende Bildungsgrad der Frauen und der ökonomische Druck. Frauen müssen zum Familieneinkommen beitragen – gerade weil auch immer mehr ärmere Familien in die Städte ziehen. Allerdings ist es problematisch, dass die verschiedenen Berufe unterschiedlich bewertet werden. Eine Krankenschwester wie in dem Film ist oft nicht so furchtbar gut beleumdet, denn sie muss ja potenziell auch Männer pflegen. Krankenhäuser sind einer der wenigen öffentlichen Räume, wo gemischtgeschlechtliche Begegnungen relativ unproblematisch sind.
Hinsichtlich der strikten Geschlechtertrennung in Das Mädchen Wadjda fällt eine Szene auf, in der Wadjdas Vater mit Freunden im Wohnzimmer sitzt, während seine Frau das Essen vorbereitet und es ihm vor die Tür stellt.
Ich habe solch eine strikte Trennung wie in Saudi-Arabien noch in keinem arabischen Land erlebt. Auch die Universitäten sind getrennt. Sie haben Männer- und Frauenabteilungen, die durch große Mauern voneinander getrennt sind, oder gleich in verschiedenen Stadtteilen liegen. Studentinnen, die einen männlichen Dozenten haben, bekommen diesen nur über Videoscreen zu sehen. In privaten Universitäten gibt es manchmal Ausnahmen, aber dann gilt natürlich das Verschleierungsgebot. In der Universitätsbibliothek in Jiddah dürfen Frauen nur an einem Vormittag in die Hauptbibliothek, an dem Männer nicht auf den Campus dürfen. In Banken gibt es getrennte Bereiche für Männer und Frauen, in Einkaufszentren oder Restaurants wird kontrolliert, wer Familien-Abteilungen betritt. Männer haben es alleine oft schwer, dort hineinzukommen. Das hängt oft davon ab, wie sie gekleidet sind und wie plausibel sie machen können, dass sie dort zum Beispiel gleich ihre Schwester treffen werden. Also, das ist schon wirklich krass.
Einerseits sollen Frauen von Männern nicht gehört werden und nicht deren Wege kreuzen. Andererseits sollen sie ihnen aber das Leben möglichst bequem gestalten. Ich überspitze das jetzt – aber ist das nun frauenfeindlich oder würden Sie sagen, das hat sich gesellschaftlich eingespielt?
Die Gesellschaft ist total patriarchalisch. Ich weiß nicht, ob Sie das schöne Buch
Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir kennen, wo gut erklärt wird, wie in der patriarchalischen Gesellschaft die Frau mit wachsendem Alter und mit wachsender Anzahl von Söhnen einen immer stärkeren Einfluss innerhalb der Familie gewinnt und da irgendwann durchaus als Mutter das Leben ihrer Söhne dominiert, wenn sie denn Söhne hat. Wenn sie keine hat, ist es schlecht. Das ist das eine. Das andere ist natürlich das, was man von Saudis immer wieder hört, und zwar auch von saudischen Frauen: Im Westen müssen die Frauen einkaufen gehen und arbeiten, wir aber respektieren unsere Frauen. Die Männer gehen für sie einkaufen, damit sie sich damit nicht abplagen müssen. Frauen äußern Wünsche und wir müssen sie erfüllen. Diese Idee des Respekts vor der Frau, trifft in der Realität sehr oft zu. So sehr die saudische Gesellschaft dem patriarchalischen System entspricht, so sehr spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle.
Hat in Ihren Augen der Film Das Mädchen Wadjda ein Happy-End? Die Mutter bricht ja scheinbar mit der Tradition.
Sie will vor allem ihrer Tochter dazu verhelfen, sich zu emanzipieren. Also ich würde das Ende im Prinzip schon positiv sehen. Ich würde es auch als Bruch mit der Tradition werten, quasi als Symbol für den Wandel, der zurzeit in nicht unerheblichem Maß in Saudi-Arabien stattfindet. Wenn tausende Mädchen nicht nur eine Schulbildung erhalten, sondern auch höhere Bildung erlangen und in akademischer Hinsicht meist besser sind als Jungen, wird natürlich auch das saudische System in Frage gestellt. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass viele Saudis den Film mit seinem Ende nicht als empfinden. Dass Wadjda am Ende auf die Straße geht und sozusagen das öffentliche Leben betritt, kann auch symbolisieren, dass sie dort überfahren wird – sozial wie auch physisch. Letztlich bleibt das offen.