Hintergrund
Gunda und der dokumentarische Tierfilm
Tiere zu filmen, war zu Beginn der Filmgeschichte noch mit einem enormen Aufwand verbunden. Schwere und wenig lichtempfindliche Kameras, scheue "Protagonisten" und widrige Drehbedingungen machten frühe Tierfilme oft zum Expeditionsabenteuer mit damals spektakulären Schauwerten. Demgegenüber ermöglichen Drohnen und winzige Kameras heute neue Möglichkeiten des Naturfilmens. Hinzu kommt eine grenzenlose Fülle von Amateurclips im Internet, die Bewegtbilder von Tieren nahezu omnipräsent machen. Die Faszination des Menschen für das Verhalten von Tieren, die schon vor über hundert Jahren den Tier- und Naturfilm entstehen ließ, hat sich gehalten. Es ist bis heute das mit Abstand populärste
Genre des Dokumentarfilms.
Wie lassen sich Tiere, vor allem solche in freier Wildbahn, filmen, als wären sie ungestört? Was wollen Filmschaffende über die Tierwelt vermitteln? Und welcher ideologische und fiktionale Gehalt ist Tierdokumentarfilmen – mal mehr und mal weniger offensichtlich – eingeschrieben?
Gunda von Victor Kossakovsky ist in einigen dieser Punkte als Bruch mit den Konventionen dieser Filmart angelegt, wie sich im Vergleich zu historischen und aktuellen Werken aufzeigen lässt. Die radikale Beobachtungshaltung des Films, ohne Off-Kommentar oder sichtbare Präsenz des Filmemachers, und der Fokus auf dem ereignisarmen Alltag der Sau Gunda fordern eine geduldige, nachdenkliche Rezeption. Doch auch in der radikalen Form von
Gunda geht es nicht um "reine" Beobachtung, sondern um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, zu dem sich der Film ästhetisch stark positioniert.
Gunda, Trailer (© Filmwelt Verleihagentur)
Bewahrende Aufzeichnung von Naturphänomenen
Dieses Verhältnis zeigt sich in allen Tierfilmen, beginnend in der
Stumm- und frühen Tonfilmzeit. Die widrigen Umstände bei Naturaufnahmen und den Fortschritt der Filmtechnik machte etwa der UFA-Regisseur Ulrich K.T. Schulz explizit zum Thema in einigen seiner Kulturfilme (damals ein Sammelbegriff für populärwissenschaftliche Lehr-, Dokumentar- und
Propagandafilme). In dem
Kurzfilm Kamerajagd auf Seehunde (D 1937) zeigt schon der Titel die Schwierigkeit an, mit dem Filmequipment im norddeutschen Wattenmeer überhaupt in die Nähe der Tiere zu kommen. Eine zweite Kamera filmt im Making-Of-Stil, wie sich Schulz und sein Kameramann Walter Suchner im Sand einbuddeln, während ein Assistent mit einer Seehund-Imitation die Tiere erfolgreich an den Strand locken kann.
Die Filmschaffenden als technisch und strategisch überlegene Jäger, die Tiere als Gejagte, die Kamera als eine Art Waffe, die hier jedoch dem friedlichen Zweck der bewahrenden Aufzeichnung von Naturphänomenen dient — der Mensch steht in dieser Vorstellung außerhalb der ökologischen Ordnung und beherrscht die Natur. Die Kamerajagd auf Tiere zielt in Kulturfilmen dieser Art auf affektive Anteilnahme (insbesondere für bedrohte Arten) und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Dabei wenden die Arbeiten von Schulz, besonders jene aus der Zeit des Nationalsozialismus, Theorien über die Tierwelt – wie das Überleben der Stärkeren, das Sterben der Kranken – auch sozialdarwinistisch auf Staat und Gesellschaft an.
Drei Typen des Tierfilms
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zunehmend Tierfilme, die auch dem Menschen eine Rolle im Ökosystem und eine wesentliche Verantwortung für die Bedrohung der Artenvielfalt zuschrieben (
Serengeti darf nicht sterben, BRD 1959). Der Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger hat mit Bezug auf ökologische und historische Perspektiven drei unterschiedliche Typen des Genres beschrieben: 1) Der
naturschützerisch-bewahrende Tierfilm begreift (wie im Absatz oben beschrieben) den Menschen als "Krone der Schöpfung" und will bedrohte Tierarten zumindest im audiovisuellen Dokument bewahren; 2) der
ökologische Tierfilm kritisiert den bedrohlichen Einfluss der Menschheitsentwicklung auf die Umwelt und will informieren und appellieren; 3) der
evolutionäre Tierfilm spekuliert über große Zeitlinien der Evolutionsgeschichte, etwa über eine Erde nach dem Ableben der Menschheit. Der dritte Typ ist laut Hediger relativ jung und wurde durch die technische Evolution
computergestützter Bildgebung (CGI) möglich, etwa wie in der TV-Doku-Serie
The Future Is Wild (USA/GB/D/F/I/Ö 2002).
Diese Typen sind keine fixen Kategorien, aber als Analyse-Instrumente hilfreich, auch wenn sie wenig über die Form der Arbeiten aussagen. Ein Großteil der aktuellen Tierfilm-Produktion kann wohl dem ökologischen Typ zugeordnet werden, von einem beobachtenden Dokumentarfilm wie
Gunda bis zu den Infotainment-Formaten der BBC (
Unsere Erde – Der Film, GB/D/USA 2007). Wie letztere folgen die meisten Tierfilme einer nahezu normierten Ästhetik: Präsentiert mit einem erklärenden Voice-Over (in der Regel von Männern: Bernhard Grzimek, Heinz Sielmann, David Attenborough und andere) und untermalt mit
Orchester-Scores werden spektakuläre
Szenen mit verschiedenen Tierarten aneinandergereiht. Ein wesentlicher Grund für die anhaltende Popularität des Tierfilms besteht für Hediger auch in der dramaturgischen Konvention: "Lebenszyklen von Zeugung, Geburt und Tod, der Kampf um Nahrung und Techniken des Überlebens, die Bildung von Familienstrukturen, ferner Mitteilung über die relative Bedrohtheit der jeweiligen Tierart: Die Themen und Motive des Tierdokumentarfilms sind überschaubar und verlässlich."
Fiktionale Elemente im dokumentarischen Genre
Wesentlich ist dem Tierfilm deshalb eine Offenheit für Gestaltungsprinzipien des Spielfilms. Dies fängt bei demonstrativen Fiktionselementen an, wenn etwa wilde Tiere Figurennamen erhalten oder ihnen gar mehrstimmige Dialoge in den Mund gelegt werden, wie in
Die Reise der Pinguine (F 2004). Damit einher geht eine Vermenschlichung der Tiere. Vom Publikum weniger akzeptiert, aber oft praktiziert, sind inszenierte Szenen und Eingriffe in die Natur: So beendete der US-amerikanische TV-Sender PBS die Zusammenarbeit mit Tierdokumentarfilmer Marty Stouffer (
Wild America, USA 1982–1996), nachdem er vermeintlich wilde Jagdszenen in Käfigen gefilmt und bei Dreharbeiten illegale Transportwege in einem Naturschutzgebiet angelegt hatte. Um hochwertige Tierbilder machen zu können, sind gewisse Eingriffe jedoch keine Seltenheit: Kossakovsky ließ Gundas Stall originalgetreu nachbauen, um durch eine offene Wand ins Innere filmen zu können; als indirekte Lichtquelle baumelte eine Disco-Kugel über der Schweine-Familie.
Absoluter Standard ist in fast allen Tierfilmen eine Manipulation der zeitlich-räumlichen Kontinuität mittels
Montage: Oftmals werden Bilder aus verschiedenen Kontexten oder unterschiedliche
Schauplätze in einen festen Sinnzusammenhang gebracht, um einen Vorgang in freier Natur sichtbar zu machen. Ebenso wird oft – wie etwa in
Schimpansen – eine tierische Hauptfigur durch mehrere Artgenossen "dargestellt". Die Storytelling-Konvention des Tierfilms sieht dramatische Höhepunkte vor. So ist in
Gunda das neue Mittel der Wahl für einen authentischeren Blick auf Tiere eigentlich ein altes: die ungeschnittene
Plansequenz, mit der schon der
Neorealismus gegen die Manipulationskraft des Montage-Kinos angetreten war.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann, freier Redakteur und Filmjournalist, 18.08.2021
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