1820. Im Oregon-Territorium, dem noch kaum kolonisierten Nordwesten der heutigen USA, finden zwei stille Männer zueinander. Der Koch Cookie, der eine Horde raubeiniger Pelzjäger mehr schlecht als recht mit Essen versorgt, und der Weltenbummler King-Lu, momentan auf der Flucht vor unbekannten Verfolgern, teilen den Traum von einem besseren Leben. Eine Gelegenheit scheint sich zu ergeben, als mit einem britischen Pelzgroßhändler ein weiterer Gast auftaucht: die erste Kuh in diesem Teil des Territoriums. Mit der Milch, erklärt Cookie, könne er endlich richtig backen, wie er es in Boston gelernt habe. Statt im Tee des Engländers landet die heimlich abgezapfte Milch in leckeren Biscuits, mit denen die beiden einen schwunghaften Handel aufziehen. Bald könnte das Geld reichen für Lus kleine Farm, für Cookies Traum von einer Bäckerei in San Francisco. Doch der nächtliche Mundraub bleibt nicht unbemerkt.

Neuankömmlinge in unberührter Natur

Mit Blick für das realistische Detail, in langen und ruhigen Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabwegungen), aber auch mit sanften Komödienelementen erzählt die Zum externen Inhalt: Independent-Filmerin (öffnet im neuen Tab) Kelly Reichardt von der Besiedlung des US-amerikanischen Westens. In noch unberührter Natur zeichnen sich die Spuren der zukünftigen Zivilisation bereits ab: Trapper, Pelzjäger, Geschäftsleute und Indigene treiben Handel in gerade erst gegründeten Forts, bezahlen in einer Währung namens "Ingot", geraten darüber in Streit. Die Lebensbedingungen an der im Zum Inhalt: Genre Western oft verklärten "Frontier" sind hart – das zeigt sich auch in der bemerkenswerten Zum Inhalt: Ausstattung: Fetzen westlicher Kleidung verschwinden unter Leder, Lumpen und notdürftig zusammengeflicktem Pelzwerk (Glossar: Zum Inhalt: Kostüm/Kostümbild). Töpfe, Pfannen, Gabeln, ein Paar Schuhe sind wertvolle Güter, für die man sein Leben riskiert. Zarte Gitarrenklänge (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) beschwören die wilde Schönheit dieser "neuen" Welt, doch die Natur schenkt den Neuankömmlingen nichts. Durch mannshohe Farne bahnen sie sich ihren Weg ins Ungewisse.

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Außenseiter unter rauen Gesellen

Der Chinese King-Lu und der Osteuropäer Cookie sind Außenseiter in dieser rauen Gesellschaft, woran auch ihr eigenwilliges Geschäftsmodell wenig ändert. Liebevoll betrachtet der Film ihre ungewöhnliche, aber auch pragmatische Männerfreundschaft, die sich auch in einem gemeinsamen Hausstand äußert. Während Cookie beständig säubert, backt und kocht, ihre Hütte gar mit Blumen verschönert, interessiert Lu, der gelegentlich etwas Holz hackt, vorrangig ihr geschäftliches Fortkommen. In solchen Zum Inhalt: Szenen könnte "First Cow" vom gängigen Zum Inhalt: Western mit seinen Schießereien und Männlichkeitsklischees nicht weiter entfernt sein. Im Gegenteil reflektiert Reichardts "Buddy Movie" gerade in diesen Situationen, auf humorvolle Weise, gängige Geschlechterrollen. Ihr minimalistischer Stil belohnt genaues Hinsehen mit verblüffenden Erkenntnissen.

Das gilt auch für die Schlüsselszene des Films. Cookie und King-Lu sind beim Chief Factor, dem Pelzgroßhändler, zur Teestunde geladen, um ihm und seinen Gästen ein "Clafoutis" zu servieren, eine besonders köstliche Süßspeise vom "alten Kontinent". Für die noch unerkannten Milchdiebe ist es ein unbequemer Termin, dem sie mit Bangen entgegensehen. Bei den Gästen handelt es sich um einen misstrauischen Hauptmann der Armee, sowie ein Oberhaupt der Indigenen mit seiner Frau. Die Frau des Chief Factor, selbst Native American, dient als Übersetzerin. Zwischen allerlei höflichem Geplänkel unter augenscheinlich gleichrangigen Geschäftspartnern kommen nach und nach auch Ressentiments zum Vorschein, die blutigen Konflikte der Zukunft zeichnen sich ab: In den vertraulichen Diskussionen zwischen Chief und Captain erkennt man die Mentalität von Sklavenhaltern; eine Wortmeldung King-Lus stößt auf merkliches Befremden; und wieviel sind die Geschäftsinteressen der Native Americans wohl noch wert, wenn der Biberpelz in Europa oder den Großstädten der Ostküste aus der Mode gerät?

Botschafter einer friedlichen Utopie

Auch in der für sie ungewohnten Form der Westernkomödie bleibt Reichardt, bekannt für den feministischen Western "Auf dem Weg nach Oregon - Meek's Cutoff" ("Meek's Cutoff" , USA 2010) oder den Öko-Thriller Zum Filmarchiv: "Night Moves" (USA 2013), bei ihren Themen: Kolonialismus und Kapitalismus bemächtigen sich einer "neuen Welt", die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur hat gerade erst begonnen. Steht "First Cow" somit in der Tradition des "kritischen Westerns", lädt der Film zugleich dazu ein, den alten "Frontier"-Mythos gänzlich neu zu denken. Handel und Heirat zwischen den verschiedenen Ethnien waren in den jungen Territorien nicht die Ausnahme, sondern gang und gäbe. Gab es also Alternativen zur gewaltsamen Landnahme? King-Lu und Cookie erscheinen in diesem Sinn als Botschafter einer friedlichen Utopie, und die späteren USA als Land der ungenutzten Möglichkeiten. Doch eine mit Bedacht gewählte erzählerische Klammer, die das Geschehen der Pionierzeit mit der Gegenwart verbindet, deutet es bereits an: Die Geschichte wurde anders geschrieben. Nur die Kuh, jenes freundliche Symbol für Wohlstand und Fortschritt, fragt nicht, wer sie melkt. Am Ende entscheidet, wem sie gehört.

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