In einer tschechischen Stadt lebt die neunjährige Johanna mit ihrer Mutter auf dem Gelände eines Botanischen Gartens. Dort wohnt auch ihr bester Freund Mathias mit seinem Vater, dem Gärtner Blume. Dessen Großvater hatte den Botanischen Garten einst gegründet, inzwischen gehört das Areal aber der Stadt und verwahrlost zusehends. Trotz all seiner Makel ist es für Johanna und Mathias das Paradies auf Erden, ein riesiger Spielplatz für Abenteuer und Träume. Umso größer ist der Schock, als der geltungsbedürftige Bürgermeister seine Stadterneuerungspläne vorstellt: Ausgerechnet im Altstadtviertel, dem Standort des Botanischen Gartens, soll ein gigantischer Businesskomplex aus Stahl und Glas entstehen. Besorgt schmieden Johanna und Mathias Rettungspläne. Während Johanna ernüchtert über die Machtlosigkeit von Kindern grübelt, skizziert sie mit blauem Filzstift einen schlafenden Tiger. Als er ihr plötzlich vom Papier entgegen gähnt, fragt sie sich, ob Dinge, die man sich ausdenkt, Realität werden können. Denn schon bald versetzt ein Gerücht die Städter in Angst: Angeblich schleicht ein blauer Tiger durch die Straßen und frisst kleine Hunde.
Reminiszenz an den tschechischen Kinderfilm
Vieles in der Figurenzeichnung, Machart und Ästhetik von der
Der blaue Tiger erinnert an den Kinderfilm aus der einstigen Tschechoslowakei, der genreübergreifend Lebenswelten von Kindern, ihre inneren Konflikte und Auseinandersetzungen mit Erwachsenen in ihrer Vielschichtigkeit darstellt. Es sind Filme, die alle Altersgruppen gleichermaßen ansprechen. International bekannt sind TV-Serien wie
Pan Tau und
Die Besucher oder Märchenfilme wie
Drei Nüsse für Aschenbrödel (Tři oříšky pro Popelku, Václav Vorlíček, ČSSR, DDR 1973). Komik, fantastische und surreale Elemente stehen hier im Kontrast zu einer Alltagswelt, in der Autoritäten ins Wanken geraten. In dieser Tradition steht
Der blaue Tiger von Regisseur Petr Oukropec. Mit ruhiger Erzählweise thematisiert er die Problematik des sich verändernden städtischen Lebensraums und des drohenden Verlusts von Johannas Zuhause. Kamera und
Schnitt zeigen, wie die Kinder ihre Welt und den städtischen Raum wahrnehmen. Extreme
Untersichten verdeutlichen oft ihren Blickwinkel.
Fantasie und Realität
Wiederholt durchbrechen poetische
Animationen den realen Handlungsverlauf. Weiße Glanzlichter verleihen Pflanzen oder dem Tigerfell magische Akzente, Postkartenmotive und Wandbilder geraten in Bewegung, und Johannas Träume werden durch Zeichentrickanimationen bebildert. Der Tiger selbst ist nicht wie in Ang Lees
Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger (Life of Pi, USA 2012) computeranimiert, sondern real: Regisseur Oukropec arbeitete mit wenigen Monaten alten Tigerbabys, deren Fell die Postproduktion
bläulich einfärbte.
Kleine Katze, großer Schatten
Bewegte Schatten und animierte Passagen verraten lange nicht, wie groß und mächtig der ominöse Tiger ist. Als Johanna das bei einem Autounfall verwundete Tier entdeckt, ist sie überrascht und erleichtert, dass es so klein und schutzbedürftig ist. Ihre Sorge um das Tier wird mit Magie belohnt: Über Nacht verwandelt sich der Botanische Garten in eine Sensation mit üppig wuchernden neuen Pflanzen. Während sich die Medien auf dieses Ereignis stürzen und eine Kampagne für den Erhalt des Gartens beginnt, macht der Bürgermeister weiterhin Jagd auf den Tiger. Er sieht in ihm eine wilde Bestie, deren Autonomie im Chaos des alten Viertels wurzelt. Dort geht es laut, bunt und unüberschaubar zu. Das Leben pulsiert und marode Winkel wie der Botanische Garten oder ein verlassenes Stadtbad erlauben Freiräume. Die neue Stadt des Bürgermeisters hingegen protzt mit moderner Architektur und geraden Straßen, in denen sich keiner, schon gar kein blauer Tiger, verstecken kann. Glasfassaden sorgen für Transparenz, das Verschwinden persönlicher Freiheiten und die diskrete Kontrolle der Bürger. Doch Regisseur Oukropec präsentiert den Bürgermeister als Karikatur und auch die Stadtbewohner/innen glauben irgendwann nicht mehr an die Bedrohung durch das gefährliche Raubtier. Ähnlich überzeichnet, skurril und als Gefangene ihrer Routinen werden auch andere erwachsene Charaktere dargestellt. Einzig Johannas Mutter tritt in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer Tochter Johanna.
Johanna - eine mutige Träumerin
Als Großstadtmärchen regt
Der blaue Tiger nicht nur das Nachdenken über den Schutz von Tieren, Pflanzen und deren Wohnraum an, sondern hinterfragt auch, welche Biotope Charakteren wie Johanna in einer durchgeplanten Stadt und konformen Gesellschaft bleiben. Mag sie auf den ersten Blick eine ganz normale Neunjährige verkörpern, interessiert sie sich anders als ihre Mitschüler/innen nicht für Trends, Kleidung und elektronisches Spielzeug. Hat sie keine Armbanduhr, malt sie sich eben eine auf die Haut – das Zeichnen ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Inmitten von Tieren, Pflanzen und dem häuslichen Chaos ihrer Mutter fühlt sich Johanna wohl. Dank ihrer ausgeprägten Fantasie, kann sie die Alltagsrealität überwinden und sieht die ungewöhnlichsten Dinge: giftig zischende Drachen auf dem Rücken der Schulhausmeisterin und letztlich auch den blauen Tiger. Durch ihn lernt sie, ihre Fantasie als Werkzeug und Waffe einzusetzen. Als der Tiger letztlich weiterzieht, trauert Johanna nicht. Sie hat einen anderen Blick auf die Realität gewonnen, und weiß dass sie mit Empathie und Fantasie jederzeit für den Erhalt ihrer Lebenswelt kämpfen kann.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp, Filmjournalistin und Publizistin, 31.10.2013
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