Im Paris der ausgehenden 1950er-Jahre ersinnen der Zeichner Jean-Jacques Sempé und der Comicautor René Goscinny gemeinsam die liebenswerte Kinderbuchfigur "Le petit Nicolas". In den fortan veröffentlichten Kurzgeschichten und Comics erlebt der kleine Nick alltägliche Dinge wie einen Besuch der Großmutter, die erste Tuchfühlung mit Mädchen oder einfach nur die große Pause in der Schule. Die von Goscinny geschriebenen und von Sempé illustrierten Episoden beschwören eine heile Kindheit voller Leichtigkeit, die den Autoren selbst nicht vergönnt war. Goscinnys Familie wanderte 1928 nach Buenos Aires aus, um dem in Europa schwelenden Antisemitismus zu entgehen, Sempé wuchs in armen Verhältnissen und mit einem gewalttätigen Vater auf. Mit dem kleinen Nick erschufen die Künstler ein Idealbild glücklicher Kinderjahre, das aus heutiger Sicht auch seine Entstehungszeit porträtiert.
Auch wenn die zunächst von 1959 bis 1964 publizierte Kinderbuchreihe
Der kleine Nick eher kurzlebig war, ist sie bis heute bekannt. Nach einer
Animationsserie und vier Realspielfilmen werfen Amandine Fredon und Benjamin Massoubre einen frischen Blick auf den Stoff. Sie kreieren eine Mischung aus animierten,
dokumentarischen Szenen zu den Biografien von Sempé und Goscinny, die als Rahmenhandlung dienen, sowie kurzen, ebenfalls animierten Episoden zu Erlebnissen des kleinen Nick. Während letztere Humor und Kurzweil bieten, schlagen die Biografien mitunter melancholische Töne an. Nick fungiert als verbindendes Element der Ebenen, indem er dem Arbeitsprozess seiner Schöpfer regelmäßig beiwohnt. Ästhetisch orientiert sich der Film mit Aquarellfarben am Stil der Vorlage, die dokumentarischen Szenen beziehen sich teils auf Archivmaterial. Viel beschwingte
Musik und eine sanfte Erzählweise runden das Gesamtbild ab.
Eine Besprechung des Films sollte mit einer Einführung in die Lebensgeschichten von Jean-Jacques Sempé und René Goscinny beginnen, die gegebenenfalls in Form von Referaten erfolgen kann. Dabei werden auch Themen wie der Zweite Weltkrieg, Antisemitismus und Armut gestreift. Vor diesem Hintergrund können Nicks glückliche Kindertage als künstlerisches Gegenbild interpretiert werden. Überhaupt bietet der Film Anlass, den künstlerischen Schaffensprozess zu thematisieren, wenn er Sempé und Goscinny bei der Ideenfindung, beim Schreiben oder Zeichnen zeigt. Auch die Titelfigur Nick lädt zu einer näheren Betrachtung ein. Aus heutiger Sicht wirkt das Kind der 1950er-Jahre etwas altmodisch. Welche Eigenschaften machen Nick liebenswert, welche sind zeitlos, welche in der Entstehungszeit verankert? Thematisiert werden sollte auch die unterschiedliche ästhetische Gestaltung der beiden Erzählebenen. So wirken die Bilder der Rahmenhandlung "voller" und mit mehr Details versehen als die besonders an den Rändern "luftigen" Binnengeschichten.
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Christian Horn, 01.12.2022, Vision Kino 2022.
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