Vierzig Jahre nach seiner Erstaufführung bildet Claude Lanzmanns Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Shoah" (FR 1985) noch immer den Mittelpunkt der filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Angesichts des absehbaren Todes der letzten Zeitzeug/-innen und des aktuell erstarkenden Antisemitismus steht seine erinnerungskulturelle Bedeutung mehr denn je außer Frage – ebenso sein Wert für die Filmbildung und die politische Bildung. Allerdings stellt Lanzmanns fast zehnstündiger Film schon aufgrund seiner monumentalen Länge Zuschauende und Vermittelnde vor eine Herausforderung. Um eine Annäherung an "Shoah" zu erleichtern, soll im Folgenden ein zentraler Aspekt des Films anhand von drei Zum Inhalt: Sequenzen aufgezeigt werden: der Auftritt von Zeitzeug/-innen sowohl mit Opfer- als auch mit Täterperspektive.

Seinen Status verdankt "Shoah "nicht zuletzt auch der Entschlossenheit, mit der Lanzmann dem Prinzip der Zeugenschaft folgte: Ein Jahrzehnt lang reiste der jüdischstämmige französische Intellektuelle durch Europa, Nordamerika und Israel, um überlebende Jüdinnen und Juden, aber auch NS-Täter oder Anwohner/-innen der Vernichtungslager vor der Kamera zu befragen. Da Lanzmann für seinen Film einen einordnenden Zum Inhalt: Off-Kommentar genauso kategorisch ablehnte wie den Einsatz von Zum Inhalt: Filmmusik und Archivbildern, stehen die Worte dieser Zeitzeug/-innen, mitunter auch ihr Schweigen, für sich. Dokumentarfilmtypische Zum Inhalt: Talking-Head-Sequenzen bestimmen "Shoah" dabei allerdings nicht. Lanzmanns Zum Inhalt: Inszenierung seiner Protagonist/-innen erweist sich tatsächlich auch aus heutiger Sicht als höchst unkonventionell und streitbar. Wenngleich kontrovers diskutiert, liegt darin der Schlüssel zur Eindringlichkeit des Films – wie schon die Einstiegsszene vor Augen führt.

Sequenz : Simon Srebnik – der singende Junge von Chełmno
(TC 0:00:00 bis 0:12:06)

Konfrontation mit der Vergangenheit: Für diese Sequenz mit Simon Srebnik, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Chełmno, kehrte Claude Lanzmann mit dem Zeitzeugen an den Ort des nationalsozialistischen Massenmordes zurück. (© Les Films Aleph 1985, absolut Medien 2007, Bundeszentrale für politische Bildung 2018)

Ein flacher Kahn gleitet im Regen über einen Flusslauf. Während der Fährmann das kleine Boot mit einer Stange ruhig voranschiebt, singt sein Passagier ein melancholisches Lied. Fast geisterhaft wirken diese ersten, ruhig Zum Inhalt: montierten Bilder in "Shoah", mit denen Lanzmann auf Orpheus und seine Reise in die Unterwelt anspielt – die freilich aber einen realen düsteren Hintergrund besitzen: Ein der Eröffnungssequenz vorangestellter prologartiger Text verortet das Geschehen in der Gegenwart – in der Nähe des polnischen Orts Chełmno, wo 1941 die systematische Ermordung der Juden in den deutschen Vernichtungslagern ihren Anfang nahm. Bei dem Sänger im Boot handelt es sich um Simon Srebnik, einen der nur zwei Überlebenden dieser nationalsozialistischen Mordstätte. Von der SS als "Arbeitsjude" klassifiziert, zwangen die Deutschen den damals gerade einmal 13-Jährigen auf ihren Bootsausflügen für sie zu singen.

In der nachgestellten Zum Inhalt: Szene lässt Lanzmann seinen Protagonisten also gewissermaßen in die eigene Vergangenheit zurückkehren. Dass der Zum Inhalt: Regisseur damit nicht auf den Illusionismus üblicher Reenactments abzielt, sondern eine schmerzhaft vergegenwärtigte Erinnerung als authentische Erfahrung mit der Kamera festhalten möchte, ist offensichtlich: Die Sequenz endet mit einer Großaufnahme (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) von Srebnik, dessen trauriges Gesicht die Realität des wachgerufenen Grauens zu bezeugen scheint. Die Unmöglichkeit, die Erfahrung der Vernichtungslager mit Worten auszudrücken, zeigt sich in der anschließenden, im Reportagestil gedrehten Sequenz. Als Srebnik die Waldlichtung bei Chełmno betritt, auf der er einst die Leichen der in den Gaswagen Ermordeten verbrennen musste, stellt er fest: "Das kann man nicht erzählen. […] Keiner kann das nicht verstehen." Ein zutiefst ambivalenter Moment, der die Last spürbar macht, die Lanzmann seinem Protagonisten durch diese Konfrontation auferlegt – dessen Wahrhaftigkeit dem Vorgehen des Regisseurs zugleich aber Legitimation verschafft.

Im weiteren Verlauf des Films greift Lanzmann die im Einvernehmen mit den Zeitzeug/-innen angewandte Methode der Re-Inszenierung noch mehrfach auf. So auch in der vieldiskutierten "Friseursalon-Szene" mit dem Treblinka-Überlebenden Abraham Bomba.

Sequenz: Abraham Bomba – der Friseur von Treblinka
(TC DVD 3: 0:16:36 bis 0:35:10)

Vieldiskutierte Sequenz: In einem Friseursalon schildert Abraham Bomba, wie er in Treblinka gezwungen wurde, jüdischen Frauen und Kindern vor ihrer Ermordung in der Gaskammer die Haare zu schneiden. (© Les Films Aleph 1985, absolut Medien 2007, Bundeszentrale für politische Bildung 2018)

Die erschütternde Szene ist nicht der erste Auftritt Abraham Bombas im Film. Der in Polen geborene, wie Simon Srebnik später nach Israel ausgewanderte ehemalige Friseur, war zuvor von Lanzmann auf einer Terrasse über dem Strand von Tel Aviv interviewt worden. Für die Schilderung seiner Erfahrungen als "Arbeitsjude" in Treblinka, der in der Gaskammer Frauen und Kindern vor ihrer Ermordung die Haare schneiden musste, verständigten sich beide jedoch auf einen Frisiersalon als Drehort. Als "Kunde" stellte sich ein Bekannter von Bomba zur Verfügung.

Die Intensität der kaum geschnittenen Sequenz beruht einerseits auf den unfassbaren Grausamkeiten, von denen Bomba berichtet. Je länger jedoch das Interview dauert und je mehr der Friseur mit seiner Emotion zu kämpfen hat, desto unerbittlicher zoomt die Kamera an ihn heran. Als Bomba schließlich mit Tränen in den Augen bittet, die Aufnahme abzubrechen, Lanzmann aber insistiert, dass er fortfahren müsse, zeigt die Kamera den traumatisierten Mann in extremer Großaufnahme. In der Eindringlichkeit, mit der dieser Moment über die Erinnerung des Friseurs den real erlebten Schrecken an der Schwelle zur Gaskammer vermittelt, erkennen manche eine historische Leistung des Films – andere sehen darin eine Grenzüberschreitung.

Sequenz: Franz Suchomel – ein SS-Täter als Experte
(TC 1:58:50 bis 2:13:50)

Die Sequenz ist ein Beispiel für ein Zeitzeugeninterview, das Lanzmann mit einem NS-Täter geführt hat. Das Gespräch mit dem SS-Mann Franz Suchomel wurde heimlich mit versteckter Kamera gefilmt. (© Les Films Aleph 1985, absolut Medien 2007, Bundeszentrale für politische Bildung 2018)

Die meisten Interviews, die er mit NS-Tätern führte, nahm Lanzmann heimlich auf. Umso mehr besitzen diese Sequenzen einen entlarvenden Charakter: So war der in Treblinka tätige SS-Unterscharführer Franz Suchomel gegen Bezahlung bereit, gewissermaßen als Experte Lanzmanns Fragen zu den Abläufen im Vernichtungslager zu beantworten – unwissend, dass das Gespräch mit versteckter Kamera gefilmt wird.
Während viele Dokumentarfilme über die NS-Zeit in der Inszenierung der Zeitzeug/-innen kaum zwischen Täter/-in, Opfer, "Bystander" oder Expert/-in unterscheiden, vermeidet Lanzmann in "Shoah "weitgehend eine solche visuelle Gleichmacherei. So bildet SS-Mann Suchomel nicht nur durch die schlechte Qualität der heimlichen Schwarzweißbilder einen Gegenpol zu den NS-Opfern im Film – Lanzmann markiert die Täterperspektive zusätzlich, indem er die Entstehungsbedingungen der Aufnahmen offenlegt: Wie in einem Journalismus-Thriller überwachen seine ihrerseits gefilmten Mitstreiter im Inneren eines abseits geparkten Busses die von der versteckten Kamera gesendeten Bild- und Tonsignale. Auch hier steht das Täterinterview im krassen Gegensatz zu den Auftritten von Simon Srebnik, Abraham Bomba und der weiteren jüdischen Zeitzeug/-innen, deren unvorstellbares Leid Lanzmanns Film wie kein Zweiter greifbar macht.

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